INTEGRAL WORLD: EXPLORING THEORIES OF EVERYTHING
Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber



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The DIA-Team (from left to right) Sonja Student, Michael Habecker, Rolf Lutterbeck (Board member IIF Frankfurt), Hilde Weckmann (European Integral Academy and Board member Integrales Forum) and Dennis Wittrock (President of the Integrales Forum).

Integrale Spiritualität
und spirituelle LehrerInnen

Ein Positionspapier des Integralen Forums e. V.

Board of IF (Integrales Forum) and
DIA (Die Integrale Akademie)
Michael Habecker, Sonja Student, Rolf Lutterbeck,
Dennis Wittrock & Hilde Weckmann.

Das Integrale Forum hat sich die Diskussion und Anwendung des von Ken Wilber und anderen entwickelten „integralen Ansatzes“ im deutschsprachigen Raum zum Ziel gesetzt. Dabei wurden und werden Kooperationen und Partnerschaften mit Organisationen und Einzelpersonen eingegangen, darunter auch spirituellen LehrerInnen. Diese LehrerInnen ihrerseits sind Gegenstand einer öffentlichen Diskussion, die von sehr zustimmend bis sehr kritisch reicht. Vor diesem Hintergrund werden wir, der Vorstand des integralen Forums, immer wieder, und in letzter Zeit verstärkt, gefragt, wie wir unser Verhältnis zu spirituellen LehrerInnen sehen und wie wir mit Kritik an diesen Lehrern umgehen.

Vor diesem Hintergrund haben wir, unter Verwendung des integralen Ansatzes, die zwei nachfolgenden Beiträge erstellt. Sie sollen

  • unsere Position zum Thema klären und darlegen
  • ein Maßstab für unsere eigene (auch spirituelle) Arbeit sein
  • die Diskussion und den Austausch mit spirituellen LehrerInnen fördern
  • als ein Ausgangspunkt für eine Diskussion mit einer interessierten Öffentlichkeit dienen
  • die Kluft zwischen geisteswissenschaftlichen Untersuchungen, ihren Anwendungen und der Spiritualität überbrücken helfen
  • ein Beispiel für eine angewandte integrale Spiritualität sein

Im ersten Beitrag Für eine Schule und Wissenschaft einer integralen evolutionären Spiritualität wird der philosophische Rahmen dargelegt, in dem sich die Diskussion bewegen kann. Er hebt besonders die theoretischen Fragen hervor, bei denen differente Positionen in der Theorie auch zu differenten ethischen Implikationen führen können. So kann beispielsweise die theoretische Vernachlässigung des Relativen gegenüber dem Absoluten, praktisch zu einer Ignoranz und Überheblichkeit einer Praxis des Absoluten gegenüber einer Praxis der Mitmenschlichkeit, und damit zu einer spirituellen Arroganz führen. Im zweiten Beitrag Aufgeklärte Spiritualität - Ein Prüfstand für spirituelle Lehrerinnen und Lehrer hinsichtlich Kompetenz, Integrität, Verantwortung und Transparenz werden dann konkrete Kriterien angeboten, nach denen spirituelle LehrerInnen, aber auch deren KritikerInnen eingeschätzt werden können.

Wir möchten damit einen Beitrag leisten zu einer (geistes)wissenschaftsbasierten Diskussion von dem, was (integrale) Spiritualität (oder evolutionäre Spiritualität, oder Erleuchtung, oder ...) sein kann, unter Einbezug derer, die dies vertreten und sich dafür einsetzen. Dabei versteht sich dieses Positionspapier als ein erster Einstieg in den Dialog über das Thema einer spirituellen Ethik des Lehrens und Lernens vor dem Hintergrund einer Kultur, in der die Spiritualität noch keine aufgeklärte und gesellschaftlich anerkannte Tradition hat.

Wir wollen mit unseren Medien und Veranstaltungen, und vor allem in dem Dialog mit spirituellen LehrerInnen – auch international – gemeinsam lernen, und das Hervorbringen einer aufgeklärten spirituellen Kultur unterstützen. Bei unseren zahlreichen Dialogen im Prozess des Entstehens dieser Stellungsnahme sind wir auf sehr große Unterstützung gestoßen. Wir sind uns bewusst, dass eine wie von uns im zweiten Beitrag vorgestellte Systematik auch zu Irritationen führen kann. Kann man, ja darf man ein so geistiges Thema wie die Spiritualität (und deren Vertreterinnen) überhaupt nach den vorgeschlagenen (oder anderen) Kriterien messen? Unsere Antwort auf diese Frage lautet eindeutig „ja“, und selbstverständlich legen wir diese Maßstäbe zuerst an uns selbst an.

Anders formuliert: Wenn die Spiritualität einen Weg in die (auch wissenschaftliche) Öffentlichkeit finden soll, dann muss sie (und ihre VertreterInnen) sich auch dem wissenschaftlichen Diskurs stellen, der vor allem auch ein geisteswissenschaftlicher Diskurs ist. (In vielen Diskussionen zu diesem Thema wird Wissenschaftlichkeit nach wie vor mit Naturwissenschaft gleichgesetzt, und die Begegnung von Wissenschaft und Spiritualität beschränkt sich auf das Messen von Hirnströmen Meditierender und dem Vergleich von quantenphysikalischen Beschreibungen mit dem Ursprung allen Seins).

Wir freuen uns auf diesen – integralen - Diskurs.

Vorstand des Integralen Forums, Mai 2010

Für eine Schule und Wissenschaft einer integralen evolutionären Spiritualität

1. Die westliche Aufklärung hat mit der Ablehnung aller Dogmen und unhinterfragter Annahmen und Machthierarchien auch religiöse Mythen abgeschafft. In diesem Prozess wurde leider das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und auch die mystischen Schätze des Menschheitserbes verworfen, die die ewige Wahrheit über unser Sein bewahren und daher nicht dem Verfallsdatum der relativen Wahrheiten unterliegen. Allerdings werden auch die ewigen Wahrheiten immer von Menschen verkündet, die wiederum durch ihre persönliche Entwicklung und Psychologie, durch ihre Physiologie und ihr Verhalten, durch ihre Gemeinschaften und Kulturen, und durch die sozialen Systeme ihrer Zeit geprägt sind. Es gibt keine „Wahrheit“, losgelöst von dem- oder derjenigen, der oder die sie ausspricht.

2. Das spirituelle Vakuum, das die Aufklärung hinterlassen hat, wurde in der Postmoderne teilweise aufgefüllt durch einen esoterischen Markt der Beliebigkeit, auf dem ernsthafte spirituelle Sucher wenig Orientierung finden. Magische und mythische Formen von Spiritualität mischen sich dort oft mit persönlich gefärbten und keinen Qualitäts-Standards unterliegenden Heilslehren, die sowohl unsere spirituelle Intelligenz als auch das Erbe der Aufklärung heraufordern.

3. Ein integrales Verständnis von Spiritualität erleichtert es uns, klare Unterscheidungen zu treffen: zwischen den ewigen Wahrheiten des Seins, die nicht von der Evolution betroffen sind, weil sie jenseits der Zeit und nicht in der Zeit sind (nach Wilber „horizontale Erleuchtung“) und der Entfaltung des Geistes von dem Einen zu den Vielen und hin zu immer größerer Bewusstheit und Liebe, Tiefe und Komplexität (nach Wilber „vertikale Erleuchtung“). Eine aufgeklärte Spiritualität berücksichtigt beide Aspekte von Aufklärung und Erleuchtung: den absoluten und zeitlosen Aspekt der Leere und den relativen und evolutionären Aspekt der Höher-Entwicklung, und verbindet beide miteinander. In einem nondualen Verständnis (und seiner Verwirklichung) sind Leere und Form eins. Da sich die Form in der Zeit entwickelt, brauchen wir die bestmögliche Landkarte des Wissens über die Entwicklung der Form. Sie kann uns eine Orientierung dabei geben, wie wir ein immer bewussterer und liebevollerer Teil der Evolution des EINEN durch die VIELEN werden.

4. Mit der integralen Theorie (und Praxis) hat Ken Wilber mit anderen einen umfassenden Entwurf für eine solche Landkarte erstellt, die nicht nur die absolute, sondern auch die relative Seite der Erleuchtung berücksichtigt, und deren Zusammentreffen in spirituellen Menschen und Gemeinschaften. Wichtige Unterscheidungen in seinem Modell integraler Spiritualität sind Ergebnisse vergleichender Studien und positiver wie negativer Erfahrungen praktizierter Spiritualität und ihrer Folgen. Mit Hilfe dieses Modells soll der Herausbildung spiritueller Schatten / Fehlentwicklungen bzw. ungesunder Absolutismen entgegengewirkt werden.

5. Die folgenden Unterscheidungen und Anregungen scheinen uns für die Entwicklung einer (über sich selbst) aufgeklärten Spiritualität von besonderer Bedeutung zu sein und sollten Grundlage für eine Zusammenarbeit von Lehrer/Innen und Richtungen einer aufgeklärten Spiritualität sein.

5.1. Sein und Werden, Verstehen und weises Tun

Eine integrale (evolutionäre) Spiritualität ist nondual und berücksichtigt das Absolute und das Relative, das ewige Sein wie das immerwährende Werden des Einen in der Manifestation. Sie entwickelt und fördert eine Praxis, die beiden Aspekten gerecht wird.

5.2. Integrale Lebenspraxis

Für die Praxis des Absoluten stellen uns die Traditionen eine Fülle von Wegen und Methoden zur Verfügung (z.B. Kontemplation und Meditation). Der relative Bereich hat ebenfalls eine Fülle von Wegen und Beispielen, die mindestens Praxen für Körper, Psyche und Schatten sowie Geist und Verstehen umfassen.

5.3. Eros und Agape, Transzendieren und Inkludieren

Zu den wichtigen Erkenntnissen einer integralen evolutionären Spiritualität gehört das Wissen um die Gesetze der Entwicklung: Der Aufbau von Strukturen führt im Prozess des Transzendierens und Inkludierens zu immer größerer Tiefe, immer umfassenderen Erkenntnishorizonten und zu immer höherer Komplexität. In einer gesunden Entwicklung enthält und bewahrt jede neue Entwicklungsstufe die Errungenschaften der vorherigen Stufe und fügt ihr neue Qualitäten hinzu. Jede Vereinseitigung einer der beiden Entwicklungsdimensionen begünstigt Fragmentierungen, Fundamentalismen und Pathologien. Wer nur inkludieren will, verhindert die Transzendenz von Stufe zu Stufe. Wer nur transzendieren will, spaltet das Gewesene ab, statt darauf aufzubauen. Spirituell können die beiden Aspekte von Inklusion und Transzendenz auch als Eros und Agape bezeichnet werden: Agape als die Liebe des Höheren zum Niederen, die auf jeder neuen Stufe alles Vorangegangene umschließt, reinigt und verfeinert. Eros als die Kraft, die die Evolution, die Individuen und Kulturen zu immer mehr Bewusstheit, Schönheit, Moral und Wahrheit vorantreibt. Eros und Agape sind das maskuline und das feminine Gesicht Gottes oder des EINEN in der Manifestation.

5.4. Das Einzigartige Selbst: Einheit von Absolutem Selbst und individuellem Selbst

Das Transzendieren und Inkludieren betrifft auch das Verhältnis von Persönlichem und Absolutem/Überpersönlichem. Der Aspekt der Transzendenz bedeutet, dass wir den überpersönlichen Absolutheits- oder Seinsaspekt erkennen und leben und ermöglicht uns die Freiheit von der Welt und damit die Freiheit in der Welt. Der Aspekt der Inklusion anerkennt, dass wir nicht nur die Verkörperung von Geist, sondern auch Menschen sind, und zwar auch ein jeweils ganz spezifischer Mensch, der das Absolute in einer je einzigartigen Form in Zeit und Raum, als Individuum, verwirklicht. Dazu gehören die bereits erwähnten menschlichen Bedingtheiten von Psychologie und Psychodynamik, Verhalten, kultureller Prägung und sozialem Eingebunden-Sein, derer wir uns im Rahmen einer spirituellen Entwicklung immer bewusster werden sollten. Aufklärung und Erleuchtung bedeuten in diesem Sinne die Einheit mit allem und die höchste verwirklichte Menschlichkeit, die in unserer Zeit möglich ist. Diese Menschlichkeit ist kosmozentrisch ausgerichtet, d. h. sie erweitert ihre Fürsorge über den weltzentrischen Kreis aller Menschen (Menschenrechte) zum Kreis aller fühlenden Wesen im Kosmos aus. Damit ist die Kosmozentrik immer „Menschenrechte plus“ und niemals „Menschenrechte minus“.

5.5. ICH, WIR, ES: Die drei Gesichter des Göttlichen

Eine weitere wichtige integrale Erkenntnis ist die Unterscheidung zwischen der Entwicklung des Kosmos im Ich, Wir und Es/Sie. Entwicklung findet innerlich und äußerlich statt, individuell und kollektiv. Alle Dimensionen müssen berücksichtigt werden und auch hier gilt es Fundamentalismen zu vermeiden. Im spirituellen Bereich wäre ein derartiger Absolutismus z.B. eine Überbetonung eines Höheren Ich, oder eines Höheren Wir, oder eines Höheren Es. Diese (mindestens) drei Gesichter Gottes sollten in einem umfassenden Verständnis alle ihren Platz haben, um Reduktionismus und Absolutismen zu vermeiden. In uns selbst erfahren wir das ICH BIN, die erste Person Gottes (neben allen Schwierigkeiten, die Individualität bedeuten kann). Im Zwischenmenschlichen und konkret im anderen Menschen sowie in der Demut vor dem Größeren erfahren wir das DU BIST, als die zweite Person Gottes (neben allen Schwierigkeiten, die Gemeinschaft und Beziehung bedeuten können), und in den Dingen und der äußerlichen Welt, die uns umgibt, erfahren wir das ES IST, als die dritte Person Gottes (neben all den Schwierigkeiten, welche die „Dinge des Lebens“ uns bereiten können).

5.6. Spirituelle Lehrer, Schulen und ihre gemeinschaftliche Kultur

Spirituelle Lehrer, Gemeinschaften und Praktizierende sollten um den Weg der Erleuchtung und Aufklärung wissen. Schüler und Lehrer sollten ihre Stärken und Entwicklungsfelder kennen. Vor allem die Lehrer haben eine besondere Verantwortung und sollten nur auf den Gebieten lehren, für die sie kompetent sind. Gerade Menschen mit einem Führungsanspruch, ob spirituell, wirtschaftlich oder politisch, sollten hier besonders auf Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit achten.

Dazu gehört auch, die eigenen Grenzen zu kennen und ihre Schülerinnen und Schüler bei Themen und Fragestellungen, in denen sie selbst nicht kompetent sind, an andere Lehrer und Fachleute weiterzuverweisen, z.B. für therapeutische Beratung, Erziehungsfragen, medizinische Betreuung, ökonomische oder technische Fragen. Ein/e LehrerIn sollte weiter sein als die SchülerInnen, und diese müssen den/die LehrerIn auch „überholen“ können. Anders als in der Prämoderne ist die Lehrerin oder der Guru jedoch kein Fürst oder Herrscher, der für alle Fragen des Lebens der Gruppe zuständig ist. In der Komplexität des modernen und postmodernen Lebens sollte die Vielfalt der Intelligenzen/Kompetenzen optimal genutzt werden. Integral informierte Lehrer/Innen gehen daher verantwortungsbewusst mit ihren jeweiligen individuellen Stärken und Schwächen in den verschiedenen Bereichen des Lebens um, und kommunizieren dies auch gegenüber einer interessierten Öffentlichkeit.

5.7. Die Aufgaben einer neuen Schule und Wissenschaft der aufgeklärten Spiritualität

Wie andere Lehrer/Innen auch brauchen spirituelle Lehrer/Innen einen kompetenten Austausch mit anderen Lehrer/Innen auf derselben oder einer höheren Entwicklungsstufe, zur Reflexion der eigenen Persönlichkeit und Arbeit. Eine Schule für aufgeklärte Spiritualität im Sinne der o.g. Punkte könnte ein Einstieg dafür sein. Aufgeklärte integrale und evolutionäre Spiritualität befindet sich noch in der Aufbauphase, theoretisch und praktisch. Der Prozess der individuellen Entwicklung einzelner wie erste Ansätze einer aufgeklärten Kultur der Spiritualität finden in einem geistigen gesellschaftlichen Klima statt, in dem sowohl Aufklärung wie auch Erleuchtung einen schlechten Ruf haben.

Gründe dafür sind die postmoderne Wertebeliebigkeit, der moderne Konsumismus mit seiner Vereinseitigung materieller Werte und die Tatsache einer engen Verbindung von traditioneller Spiritualität mit prämodernen Werten und (autoritären) Strukturen. Mit dem Wiederanknüpfen an prämoderne Traditionen werden diese traditionellen Werte oft unhinterfragt übernommen, was sie bei aufgeklärten Menschen (zu Recht) diskreditiert und eine Barriere für ihr Streben nach Erleuchtung darstellt. Umso wichtiger ist es, dass eine aufgeklärte Schule der Spiritualität die ewigen Wahrheiten der Prämoderne rehabilitiert, sie aber von den konformistischen Strukturen befreit. Sie bewahrt das Beste aus Tradition, Moderne und Postmoderne und kann so zur Beendigung der bestehenden – auch spiritueller – Kulturkonflikte beitragen.

Diese Thesen sollen ein Einstieg sein in einen peer-to-peer-Dialog oder einer transkonfessionellen Gemeinschaft spiritueller Lehrer/Innen und Organisationen, die sich der Verantwortung für eine aufgeklärte Spiritualität stellen.

Vorstand des Integralen Forums und der DIA – Die Integrale Akademie, Mai 2010

Aufgeklärte Spiritualität
Ein Prüfstand für spirituelle Lehrerinnen und Lehrer hinsichtlich
Kompetenz, Integrität, Verantwortung und Transparenz

In den zurückliegenden Jahrzehnten ist eine neues, wenn man so will, Berufsbild entstanden, das des spirituellen Lehrers (oder der spirituellen Lehrerin, im Folgenden ist jeweils beides gemeint).

Gibt man die Begriffe bei Google ein, erhält man für „spiritueller Lehrer“ 146.000 Einträge und für „spirituelle Lehrerin“ 165.000 Einträge (am 12.4.2010). Auch wenn sich nicht hinter jedem Eintrag eine konkrete Person verbirgt, so weisen diese Internetlinks doch auf eine große Zahl von Menschen hin, deren Selbstverständnis in diese Richtung geht.

Da mit dieser Bezeichnung auch oft ein Führungs- und Lehranspruch verbunden wird (eine spirituelle Lehrerin ist jemand, die anderen auf dem spirituellen Weg sagen kann, wo es langgeht, und diesbezüglich über eine überdurchschnittliche Kompetenz verfügt), wollen wir in diesem Beitrag der Frage nachgehen, was die besonderen Qualitäten eines spirituellen Lehrers ausmachen und wie man diese feststellen kann. Unser Anliegen dabei ist es, durch eine Offenlegung von Qualitätskriterien eine kritische Reflektion anzuregen, zukünftige Fälle des Missbrauchs und des Fehlverhaltens spiritueller Lehrer zu verhindern und durch Anwendung rational nachvollziehbarer Prinzipien und Fragestellungen das geistige und moralische Niveau der Aufklärung in den Bereich der Spiritualität zu bringen, statt sich – wie der Mainstream – komplett davon abzuwenden. Wir sind der Ansicht, dass wahre Spiritualität das Kind ist, das mit dem Badewasser der Religion ausgeschüttet wurde. Daraus erwachsen der Impuls und zugleich die Aufgabe, die Schätze der Weisheit, die in den spirituellen Traditionen gewonnen wurden, zu bergen. Dabei dürfen wir jedoch nicht in unkritischer ‚New-Age-Fasson hinter das Niveau der Moderne zurückfallen, sondern müssen den Anspruch der (grundsätzlichen) rationalen Legitimation auch auf spirituelle LehrerInnen übertragen. Dies führt nicht nur zu Prinzipien oder (ethischen) Richtlinien, wie sie für viele Berufsgruppen üblich, ja selbstverständlich sind, sondern auch zu Mitteln und Wegen einer Überprüfung.

Ein Problem ist dabei, dass, wie bei allen anderen „geistigen“ Kompetenzen auch, diese nicht so offensichtlich demonstriert werden können wie z. B. ein handwerkliches Können. Ob ein Tischler einen Tisch bauen kann, lässt sich auch von einem Laien anhand des Tisches gut beurteilen, und ebenso genügt eine Hörprobe um zu beurteilen, ob eine Klavierspielerin Klavier spielen kann. Bei der Spiritualität ist das anders. Hier haben wir es mit innerlichen Qualitäten zu tun, die sich nur indirekt ermitteln lassen, zum einem als Selbsteinschätzung über und durch die Person der spirituellen Lehrerin selbst, und dann durch alle Arten von Fremdeinschätzungen. Dabei sind Irrtümer in beiden Fällen möglich und in gewisser Weise sogar unvermeidbar, was jedoch kein Grund sein sollte, derartige Einschätzungen (die ja sowieso, und meist unbewusst, vorgenommen werden), nicht anzugehen. Durch die stürmische Entwicklung von Geisteswissenschaften wie Phänomenologie, Psychologie, Psychodynamik und (Entwicklungs)Strukturalismus in den zurückliegenden einhundert Jahren verfügen wir heute über ein verlässliches Instrumentarium, um menschliche Innerlichkeit zu untersuchen und vergleichbar zu machen.

Um diese Diskussion in Gang zu bringen, wollen wir einige Kriterien vorschlagen (die Reihenfolge ist dabei nicht wesentlich), die für spirituelle Lehrerinnen und Lehrer aus integraler Sicht gelten sollten. Eine wichtige Perspektive dabei ist die des Lehrers selbst: wie sieht er sich und seine Arbeit, wie ist sein Selbstverständnis und seine Selbsteinschätzung? Eine ebenso wichtige Perspektive ist die Außensicht auf die Lehrerin und ihre Arbeit. Wie sehen andere das, was eine spirituelle Lehrerin (aus)macht?

  1. Selbstauskunft
    1. phänomenologische Kompetenz
    2. psychologische Transparenz
    3. biografische Transparenz
    4. philosophisch-wissenschaftliche Kompetenz und Transparenz (Lehre)
    5. die eigene Praxis
  2. Fremdeinschätzung
    1. organisatorische Transparenz
    2. was tut der spirituelle Lehrer?
    3. dialogisches Engagement
    4. Weggefährten
    5. öffentliche Meinung
Erläuterungen

Zu a: Zur Spiritualität gehören vor allem innerliche Erfahrungen, die einen besonderen, eben „spirituellen“ Charakter haben. Hierzu sollten spirituelle Lehrer eine ausreichende und laufende Selbstauskunft geben über das, was sie im Laufe ihrer Entwicklung in ihrem Bewusstsein erlebt und verwirklicht haben. Diese Aussagen lassen sich dann mit dem großen Fundus an spirituellen Berichten der Traditionen und den Berichten anderer zeitgenössischer Lehrer vergleichen. (Ein klassischer Bericht dieser Art wäre die Abhandlung „Die innere Burg“ von Teresa von Avila). Auf diese Weise kann, als ein bedeutender Nebeneffekt, die Spiritualität als eine phänomenologische Geisteswissenschaft in den Erkenntnis- und Wissenschaftskreis mit aufgenommen werden.

Zu b: Spätestens seit Ken Wilbers Unterscheidung in einen Zustandsweg des Erwachens und einen Strukturweg der Entwicklung (mit jeweiligen Möglichkeiten der Dissoziation und Schattenbildung bei jedem Entwicklungsschritt) ist klar, dass spirituelle Einsichten (Zustandserfahrungen) nicht notwendigerweise mit psychologischer Selbsterkenntnis, bzw. einer hohen Ebene der Strukturentwicklung einhergehen. Die Fälle von Lehrern mit hohen spirituellen Einsichten, aber einem wenig entwickelten Charakter, sind zahllos. Daher ist es wichtig, dass spirituelle Lehrerinnen und Lehrer sich selbst und einer interessierten Öffentlichkeit darüber Auskunft geben, was für ein Mensch sie sind, und wie sie an sich arbeiten. Eine der Möglichkeit dazu ist eine Selbsteinschätzung in einem „Psychogramm“, bei der unterschiedliche Entwicklungskompetenzen wie z. B. kognitive Entwicklung, Selbstentwicklung, moralische Entwicklung (Werte) usw. eingeschätzt werden, auf der Grundlage der entsprechenden Modelle und den psychometrischen Methoden der Entwicklungspsychologie. Dazu können dann noch Hinweise auf mögliche Schattendynamiken kommen, die der spirituelle Lehrer im Laufe seines Lebens bei sich entdeckt und bearbeitet hat. Darüber berichtet z. B. der Zen-Meister Genpo Roshi in der Darstellung der Entwicklung des BIG Mind-Prozesses, in den die dualen und nichtdualen inneren Stimmen integriert sind. Ebenso aufschlussreich sind Selbstauskünfte der Lehrerin zu Themen wie Macht, Machtmissbrauch, Lehrer-Schüler Verhältnis und Autorität.

Zu c: Die Biografie eines Menschen legt diesen nicht auf alle Zeiten fest, sagt jedoch einiges über ihn aus. Auch erleuchtete Menschen bleiben Menschen mit einer Biografie. Wo kommt der Lehrer her, was hat er oder sie erlebt, welche Menschen, Methoden und Theorien waren/sind wichtig für ihn oder sie? Es ist zu empfehlen, dass spirituelle Lehrer ihre Sicht auf ihre Entwicklung und Biografie veröffentlichen. Interessant sind vor allem schwierige Lebensphasen, Krisen und deren Bewältigung. Ebenso interessant sind Einsichten und Selbstreflexionen über Fehler, neue Erkenntnisse und Lernprozesse.

Zu d: Was ist die Lehre einer Lehrerin (auch die Aussage „ich habe keine Lehre“ ist eine Lehre)? Auf welchen Einsichten beruht diese, und durch welche natur- und geisteswissenschaftliche Methoden wird diese Lehre unterstützt und belegt? Durch welche Methoden und Praktiken sind die Einsichten gewonnen worden, und wie lassen sie sich überprüfen? Steht die Lehrerin dabei in der Linie eine Tradition (wie z. B. Zen), und hat sie aus dieser Tradition, von ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer, ihre Lehrerlaubnis erhalten, oder hat sie sich selbst zur Lehrerin ernannt und autorisiert? Das Offenlegen der Lehre und deren Herkunft ist ein wesentlicher Aspekt bei der Einschätzung der Qualität eines Lehrers. Dadurch wird die Lehre auch vergleichbar mit den Lehren anderer Lehrer, und den Wissenschaften ganz allgemein.

Zu e: Was tut die spirituelle Lehrerin für ihr eigene Weiterentwicklung und Bewusstseinsvertiefung? Welche Auskünfte gibt sie über ihre eigene Praxis (einschließlich der Überzeugung: „meine Bewusstseinsentwicklung ist vollkommen und daher abgeschlossen“)?

Zu f: Spirituelle Lehrerinnen gründen oder bilden oft Organisationen mit Schülergemeinschaften. Damit sind sie nicht für alles verantwortlich, was in diesen Gemeinschaften geschieht oder was ihre Schüler machen, aber ein Blick auf die Organisation ist eben auch ein Blick auf den Lehrer, der sie leitet. Dabei können Fragen interessant sein wie:

  • Wie ist die Gemeinschaft organisiert? Ist die Organisation transparent oder undurchsichtig?
  • Wie sind die Regeln („Ordensregeln“) und Abläufe darin?
  • Wie kommt man hinein, und wie kommt man wieder heraus?
  • Wie ist der Umgang mit Geld, und wie finanziert sich die Organisation?
  • Wie finanziert der spirituelle Lehrer seinen Lebensunterhalt?
  • Inwieweit ist die Organisation abhängig/unabhängig von der spirituellen Lehrerin?
  • Wie groß ist die Organisation?
  • Ist es im Rahmen der Organisation vorgesehen und möglich, dass Schüler ihren Lehrer in seiner spirituellen Hauptkompetenz „überholen“, und was hätte das für Konsequenzen?
  • Welche großen Schüler hat ein Lehrer hervorgebracht und in die Eigenständigkeit entlassen?

Zu g: Das Tun, bzw. das Verhalten eines spirituellen Lehrerin ist am einfachsten zu erkennen und eine wichtige Informationsquelle für Interessierte. Dabei ist der Umgang mit anderen Menschen von besonderem Interesse. Wie geht der Lehrer mit Schülern um, mit ehemaligen Schülern, mit Sympathisanten, mit Gegnern und Kritikern? Wie weit reicht der Wirkungskreis der Lehrerin, und welche Menschen profitieren davon? Kommen Menschen durch das Tun der Lehrerin zu Schaden? Was berichten Schüler und Seminarteilnehmerinnen von ihren Erlebnissen mit dem Lehrer? Zum Tun im weiteren Sinn gehören auch alle Veröffentlichungen.

Zu h): Zum dialogischen Engagement gehört die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen. Gesprächspartner die sich dabei anbieten sind

  • andere spirituelle LehrerInnen
  • Schüler des Lehrers
  • die Öffentlichkeit insgesamt, einschließlich der Medien
  • Eine besonders wichtige Funktion hat dabei der Dialog und Umgang mit Kritikern.

Zu i: Weggefährten eines spirituellen Lehrers sind wichtige Informationsquellen, da sie den Lehrer persönlich kennen und auf seinem Lebensweg begeleitet haben. Das Spektrum reicht dabei von langjährigen begeisterten Schülerinnen, anderen spirituellen Lehrerinnen und Lehrern, mit denen der Lehrer im Dialog und in Kooperation ist, bis zu Aussteigern, die zu Kritikern geworden sind.

Zu j: die öffentliche Meinung, wie sie in den Medien über eine Lehrerin oder einen Lehrer zum Ausdruck kommt, ist eine weitere wichtige Informationsquelle. Auch dabei erstreckt sich das Kommentarspektrum meist von positiv zustimmend bis zu negativ ablehnend. Auch dies trägt zum Gesamtbild bei.

Fazit

Wir leben in einer Zeit, in der die einseitig materialistische Weltbetrachtung mehr und mehr um die dringend notwendige innerliche und geistige Dimension erweitert wird. Zu dieser Erweiterung tragen spirituelle Lehrer und spirituelle Lehrerinnen ganz entscheidend bei. Dies ist ebenso wichtig wie positiv. Gleichzeitig bedeuten spirituelle Einsichten nicht automatisch auch Einsichten in andere Lebensbereiche oder in die eigene Persönlichkeit, und daher ist es notwendig und geboten genau hinzuschauen, wo jeweils die Fähigkeiten und Kompetenzen einer spirituellen Lehrerin liegen und wo nicht. Dies geschieht im Interesse des Lehrers oder der Lehrerin selbst, im Interesse der Schüler- und Anhängerschaft, und auch im Interesse einer interessierten Öffentlichkeit. Einem gegenüber sich selbst, seine Schülern und auch der Öffentlichkeit transparenten Lehrer kann uneingeschränkt Vertrauen entgegengebracht werden, als die Grundvoraussetzung einer gesunden Schüler-Lehrer Beziehung. Die Pädagogik, auch die spirituelle Pädagogik, kann sehr facettenreich sein, von nett und freundlich bis hin zu kompromissloser Konsequenz und Härte. Was von außen manchmal befremdlich bei einem Lehrerverhalten wirkt, kann, in einer spezifischen Situation und für eine spezifische Person, genau das Richtige sein um aufzuwachen. Die rituellen „Schläge“, die im Zen ausgeteilt werden, sind ein Beispiel dafür. Entscheidend bei allem Wirken ist, aus welchem Verständnis (small/big Mind) und aus welchen Motivationen (small/big Heart) die Interventionen des spirituellen Lehrers kommen. Ein Hinterfragen sowohl eines konventionellen wie auch eines unkonventionellen Lehrstils muss auf jeden Fall möglich sein.

Damit der spirituelle Lernprozess erfolgreich sein kann, braucht es auf Seiten des Schülers Vertrauen und „commitment“, als eine freiwillige Selbstverpflichtung, sich unter Anleitung eines frei gewählten Lehrers zu entwickeln. Lehrer und Schüler sollten über die Ziele und Schritte dieses Entwicklungsprozesses eine Vereinbarung treffen, auf die sie bei Konflikten immer wieder zurückgreifen können und die im Verlaufe des Entwicklungsprozesses immer wieder aktualisiert werden sollte. Der Weg spiritueller Entwicklung, der Transzendenz des Ego, ist selten ein Spaziergang. Auf Seiten der Lehrerin und des Lehrers braucht es Kompetenz, Integrität und Transparenz. Die Schülerin behält dabei immer auch die Verantwortung für sich selbst, muss sich jedoch, damit eine Lehrer-Schüler Beziehung entstehen kann, der Lehrerin auch ein Stück weit unterwerfen bzw. ihr folgen. Die Lehrerin hat in diesem Prozess daher eine besondere Verantwortung für sich selbst, für den Schüler und für die gemeinsame Beziehung.

Trotz ihres Bestehens seit mehreren Tausend Jahren hat es die Spiritualität (oder Religiosität) nicht geschafft, vom wissenschaftlichen Mainstream ernst genommen zu werden. Das liegt zum einen an der Blindheit dieses Mainstreams gegenüber spirituellen Einsichten, die unserer Auffassung nach nichts anderes als eine Form geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse sind, und als solche wissenschaftlichen Untersuchungen prinzipiell offen stehen, da sie in experimentell rekonstruierbarer Erfahrung gründen und – innerhalb einer Gemeinschaft kundiger Praktizierender – verifizierbar und auch falsifizierbar sind. Es liegt aber auch an der modernen Spiritualität und ihren Vertretern, die aus dem, was sie wissen, tun und sind, oft immer noch ein Geheimnis machen, und sich außerhalb und oberhalb von Überprüfung und Diskussion stellen. Sie haben (quasi als Retourkutsche) selber oftmals keine allzu hohe Meinung von der Wissenschaft, die – als Produkt des menschlichen Verstandes – ihrer Ansicht nach eher Teil des Problems als der Lösung ist. Das reicht bisweilen bis hin zu einer kompletten Rationalitätsfeindlichkeit, die weder differenziert, noch zeitgemäß oder aufgekärt ist. Hier können Transparenz, Dialogbereitschaft, Offenheit und Wissenschaftlichkeit zu mehr Klarheit und Vertrauen führen.

Eine Schule aufgeklärter Spiritualität fördert diese Qualitäten und bildet eine kompetente Gemeinschaft, in der Lehrerinnen und Lehrer sich gemeinsam weiterentwickeln können. Klare Kriterien und ihre situationsangemessene Anwendung fördern das Gewahrsein und die Bewusstheit der Lehrerinnen und Lehrer selbst wie auch das Verständnis, die Achtsamkeit und Verantwortlichkeit bei ihren Schülerinnen und Schülern. Diese Qualitäten wirken zurück auf das Verständnis von Spiritualität in der Öffentlichkeit und bereiten den Weg für eine wahrhaft integrale Umarmung einer umfassenden Wissenschaft und einer aufgeklärten Spiritualität – jenseits von Dogma, Naivität, blindem Glauben, Omnipotenzphantasien und ethisch-moralischen Fehltritten.

Vorstand des Integralen Forums und der DIA – Die Integrale Akademie, Mai 2010