INTEGRAL WORLD: EXPLORING THEORIES OF EVERYTHING
Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber
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Quelle: Novalis 9/10 2001, S. 64-69.
Ken Wilbers "Theorie von Allem"
Integrale Visionen - zukünftiges politisches Handeln
Von Klaus J. Bracker
Versuche, das Ganze der Welt in übergreifenden Zusammenhängen einheitlich erklärbar zu machen, gerieten bei denen, die eine konkrete Praxis (= Handeln) jeglicher theoretischen Suche vorzogen, wohl seit jeher in den Ruf unverzeihlicher Verstiegenheit und Wirklichkeitsferne. Und dennoch lieferten eben dieselben Versuche die bis heute kaum verzichtbar erscheinenden Wegmarken zur Entfaltung menschlichen Erkennens durch die Jahrtausende.
Platon und Aristoteles im antiken Griechenland, Gautama Buddha auf seine Art in Indien und im Anschluss an ihn die bedeutenden Philosophen des Mahayana-Buddhismus wie Nagarjuna und Asanga, im arabischen und christlichen Mittelalter Größen wie Avicenna und Averroes zum einen, Albertus Magnus und Thomas von Aquin zum anderen: Jeder von ihnen strebte nach nichts anderem als einem umfassenden Verständnisrahmen, einer alles durchdringenden Theoria (= Anschauung), die zumeist als eine Metaphysik bis zu den letzten Ursachen, welche hinter oder auch in allem Dinglichen liegen, vorstoßen sollte und vor deren Hintergrund jedes einzelne praktische Tun sich in seinem Sinn und Wirklichkeitsbezug überhaupt erst erweisen konnte. Sie entwickelten im Zuge des Erkenntnisfortschritts immer ausgefeiltere Methoden, immer mehr System. Ein Grundkonflikt der großen metaphysischen Universalsysteme trat in der Neuzeit jedoch zunehmend klar zutage: Wie konnte angesichts der kosmischen Überlast eines einheitlich-ganzheitlichen Ursachenorganismus die Stellung des einzelnen für sein Handeln verantwortlichen Individuums, seine Einzigkeit und Freiheit begründet werden und bestehen?
Eines der letzten großen Universalsysteme der Philosophie wurde im 19. Jh. im absoluten Idealismus Hegels aufgestellt. Hegel hoffte, dem gekennzeichneten Dilemma mit Hilfe seiner Dialektik zu entrinnen, die er nicht zuletzt dem in der Natur beobachtbaren organischen Wachstum abgelesen hatte: Wie die Pflanze in ihrer Entwicklung vom Samen und Keim über die Blatt- und Sprossentfaltung, über Blüte und Frucht wieder ins Samenstadium eintritt, so lebte sich auch im Weltprozess die Idee in einem andauernden Werden aus, von der Einheit ausgehend, in die Vielfalt der Erscheinungen sich differenzierend und auf neuer Stufe wieder in die Einheit oder Einsheit einmündend. Gegensätze schlössen sich nicht aus, sie könnten vielmehr ineinander übergehen. Abstrakt bedeutete dies den dialektischen Prozess von These, Antithese und Synthese. Die Idee sei das Sein selbst und der einzelne Denker habe denkend Anteil am Weltlogos, verwoben in die Alleinheit. - Die nach ihm kamen, attestierten Hegel jedoch, dass in dem subtilen Pantheismus seines Systems (Panlogismus) das Individuum als bloßes Glied des Weltendenkens letztlich doch untergehen müsse, dass bei ihm das Seiende in seinen fließenden Kreisläufen gegenseitiger Verursachung keinen Raum lasse für die Freiheit und Unbedingtheit des einzelnen und auch nicht für eine authentische, sich verantwortende Begegnung des Menschen mit Gott.
Im Laufe des 20. Jh. - sieht man vorerst von Theosophie und Anthroposophie noch einmal ab - verlagerte sich die Suche nach der "Weltformel" von der Philosophie in die Richtung der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik. Mit der Relativitätstheorie Einsteins und seiner Gleichung E = mc2 glaubten viele der Lösung nahe zu sein. Und noch gegen Ende des Jahrhunderts fragte Stephen Hawking: "Ist das Ende der theoretischen Physik in Sicht?" und schrieb eine "Kurze Geschichte der Zeit". Gerade auch an ihm trat aber nur allzu deutlich der typische naturwissenschaftliche Reduktionismus hervor, der besagte, dass alles und jedes letztlich anhand der Physik der kleinsten Teilchen erklärt werden könne. Hawking behauptete, dass, da die Struktur der Moleküle und ihrer wechselseitigen Reaktionen allen chemischen und biologischen Prozessen zugrunde liege, insbesondere die Quantenmechanik es im Prinzip ermögliche, nahezu alles vorherzusagen, was Menschen um sich herum wahrnehmen können.
Seit etwa 1970 erhob sich das Streben nach Ganzheitlichkeit auf der Grundlage des sich allmählich ausbreitenden ökologischen Bewusstseins auf die Ebene des Lebendigen, und zwar mehr und mehr sowohl theoretisch als auch praktisch. Aufgerüttelt von den möglichen Auswirkungen sich abzeichnender Umweltkatastrophen wurde in der westlichen Welt eine ganze Generation wach für den Eigenwert alles organisch Lebendigen, des sogenannten Gewebes des Lebens, welches in seinen unendlichen Verflechtungen den gesamten Planeten umgibt. Neben die Tendenzen der ökonomischen, kommunikativen und kulturellen Globalisierung traten seitdem zunehmend die holistischen Bestrebungen, dieses Gewebe des Lebens als das globale Urbild aller Ganzheit und Einheit zu fassen und zu ihm eine bewusste Beziehung zu entwickeln. Die Gaia-Hypothese James Lovelocks stellt einen nächsten Schritt dar. Er sieht die Erde als einen sich selbst regulierenden lebendigen (ja, beseelten und mit eigenen Absichten begabten) Organismus an. Das biologische Leben sei, so Lovelock, von so entscheidendem Einfluss auf die Atmosphäre, die Verwitterung der Gesteine, die Chemie der Ozeane und den geologischen Aufbau der Erde, dass man alle diese Aspekte nur in ihrer Beziehung zueinander, in ihrer Verflochtenheit, betrachten kann. Aus ihrem Zusammenwirken ergebe sich eine erstaunliche und langfristige Stabilität, ohne die weder die Evolution noch der Fortbestand der Lebewesen möglich wäre. Sie bilden das System, eine Ganzheit des Lebendigen, die Biosphäre, das Lovelock dann in Anlehnung an den griechischen Mythos der göttlichen Erdmutter "Gaia" nennt. In Gaia, so seine geophysiologischen Ausführungen, sind auch die Menschen einfach eine Spezies unter vielen, nicht Eigner oder Verwalter des Planeten. Und zu Gaia die richtige Beziehung zu finden, sei für die Zukunft weitaus wichtiger als die Fortschreibung des angestammten anthropozentrischen Interessedenkens.
Hier nun ist eine von vielen Stellen, an denen Ken Wilber mit seinen Fragen und Überlegungen einsetzt. Es wird auf die Formen des Holismus zurückzukommen sein. Wilbers vorliegende "Theory of Everything" ("Theorie von Allem", am., Boulder, Colorado, 2000), die jetzt im September, von Stephan Schuhmacher ins Deutsche übersetzt, unter dem Titel "Ganzheitlich handeln" im Arbor Verlag erscheinen soll, stellt zwar zunächst eine Antwort auf Gerüchte von einem physikalischen Supermodell dar, aufbauend auf der sogenannten String- oder M-Theorie, das im Sinne der "Weltformel" angeblich alle bekannten Modelle in sich vereinigen und schlicht alles erklären könnte. Vielleicht boten diese Vermutungen Wilber aber auch nur den Anlass, sein integrales Konzept, das er seit gut zwanzig Jahren entwickelt hat, in abermals neuer Perspektive vorzulegen. Denn ständig ist er bemüht, einen jeden einigermaßen seriösen holistischen Ansatz aufzugreifen und weiter zu entwickeln. Das neue Buch versteht sich - neben seinem theoretischen Anspruch - zugleich als Beschreibung eines möglichen Weges zu integraler Praxis in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Spiritualität, wie der Untertitel verrät.
Ken Wilber, Jahrgang 1947, ist ein Kind der Nachkriegsgeneration. Der Vater wurde als Offizier der Luftwaffe häufig versetzt, was zu ständigen Ortswechseln führte. So empfand er sich als ohne Wurzeln, ohne Heimat aufgewachsen. Wilber absolvierte Studien in Physik und Biochemie, wandte sich dann aber vom Universitätsbetrieb ab. Hatten ihn an den Naturwissenschaften deren Präzision und Akkuratesse fasziniert, so gingen ihm parallel dazu, seit den Tagen am College und ausgelöst durch die Begegnung mit Laotse's Tao Te King, im Taoismus und Buddhismus ganze Welten der inneren Dimension auf, so als wäre auf einmal längst Bekanntes wieder in sein Bewusstsein getreten. Die Psychotherapeutin Edith Zundel schildert dies eindrücklich in dem Bericht über ihre Begegnung mit Wilber. In der weiteren Folge nahm er an Philosophischem aus Ost und West, an Psychologischem und Theologischem so ziemlich alles in sich auf, dessen er habhaft werden konnte. Ein offenbar phänomenales Gedächtnis ermöglichte es ihm, täglich bis zu drei Büchern zu lesen und deren Inhalt auch später gegenwärtig zu halten. Um seine Liebe zu den großen Ideen leben zu können, verdiente sich Wilber seinen Unterhalt jahrelang mit Halbtagsjobs, beispielsweise als der sprichwörtliche Tellerwäscher. Als Schriftsteller hatte er, dreißigjährig, den ersten Erfolg mit seinem "Spektrum des Bewusstseins" (1977, dt. 1987), dem bis heute siebzehn, achtzehn Titel folgen sollten.
Neben der unermüdlichen Ausarbeitung seiner umfassenden integralen Vision erlebte Ken Wilber mit seiner Frau Treya Killam persönlich tiefste Schmerzen und größtes Glück. Er begegnete ihr 1983, es war "Liebe auf die erste Berührung" und bald heirateten sie. Nur eine Woche nach der Hochzeit aber wurde Treyas Brustkrebs diagnostiziert, an dem sie fünf Jahre später sterben würde. In diesen Jahren liebevollen, ringenden, manchmal verzweifelten, in jedem Moment aber intensiven Begleitens Treyas, in denen beide das integrale Konzept einer äußersten Belastungsprobe aussetzten, musste das Schreiben mehr oder weniger ruhen. In "Mut und Gnade" (1991, dt. 1992) sind dann die persönlichen Aufzeichnungen von Treya Killam und Ken Wilber aus dieser Zeit zusammengefasst. Wer in Wilber wegen der in seinen Büchern zutage tretenden intellektuellen Brillanz nur einen "kalten Analytiker" sehen kann, dem zudem nachgesagt wurde, er sei menschenscheu, "eine Art Einsiedler", der wird in diesem schonungslos offenen Buch neben der großen geistigen Weite, die beide in ihrer Liebe beseelte, auch kompromisslose Eingeständnisse Wilbers finden von Augenblicken zwischen Angst und Hoffnung, Resignation und doch wieder neuem Mut, in denen er seiner eigenen Meinung nach versagt hatte. Man trifft auf menschliche Tiefe.
Was den ideenreichen Wilber umtreibt, ist zum einen die Erfahrung, dass viele von den hunderten von Autoren, die er studiert hat und ständig weiter studiert, einerseits jeder für sich auf irgendeine Art Recht haben, dass sie sich aber, vergleicht man ihre Aussagen, gegenseitig hoffnungslos widersprechen. Und es ist zum anderen der nicht zu bezähmende Wille, all die offenbar divergierenden Sichtweisen mit Hilfe eines umfassenderen Konzeptes dennoch in ein größeres Ganzes zu integrieren. Dem widmet Wilber sich bis heute. In den letzten fünf Jahren erschienen auf Deutsch: "Eros, Kosmos, Logos - Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend" (1996), "Eine kurze Geschichte des Kosmos" (1997), "Naturwissenschaft und Religion - Die Versöhnung von Wissen und Weisheit" (1998), "Das Wahre, Schöne, Gute - Geist und Kultur im 3. Jahrtausend" (1999; Rezension in Novalis 2, 2000) - zum Teil recht umfangreiche, über 500 und 800 Seiten starke Bände.
Neben dem hier näher zu betrachtenden "Ganzheitlich handeln" kommen in diesem Herbst zwei weitere Titel in deutscher Übersetzung heraus: "Integrale Psychologie", eine Art Lehrbuch der Transpersonalen Schule, in dem Wilber mehr als einhundert Modelle der Persönlichkeits- und der spirituellen Entwicklung ausgewertet hat, ebenfalls im Arbor Verlag; sowie "Einfach ‚Das'", das während eines Jahres geführte Tagebuch Wilbers, mit dem er hofft, das von ihm gemeinte integrale Konzept als individuelle Lebenspraxis exemplarisch belegen zu können, erschienen beim Fischer Taschenbuchverlag in der Reihe "Spirit".
Parallel zu "A Theory of Everything" veröffentlichte Wilber in den USA ein weiteres Buch mit dem eigenwilligen Titel "Boomeritis" - und von dieser Boomeritis handelt phasenweise auch "A Theory of Everything" - "Ganzheitlich handeln". Worum geht es?
Wilber hat in der eigenen Generation, der Nachkriegsgeneration, die in Nordamerika auch die des Babybooms genannt wird (die Babyboomers: Sie waren die Träger der politischen "68er", der "Hippie"- sowie der daraus erwachsenen "New Age"-Bewegung und sind heute tonangebend in Politik und Wirtschaft), beobachtet, dass ihre Repräsentanten und mit ihnen die Welt im Ganzen an einer Weggabelung angekommen ist: "Wir können den Weg des wissenschaftlichen Materialismus fortsetzen, den Weg des zersplitterten Pluralismus und der dekonstruierenden Postmoderne. Oder wir können tatsächlich einen stärker integralen, umfassenderen und inklusiveren Reiseweg wählen." In "Boomeritis" erkunde er den von den Boomern bisher begangenen Weg zunehmender Fragmentierung und Entfremdung, in "Ganzheitlich handeln" ("A Theory of Everything") erforsche er hingegen den alternativen Weg des Holismus und der integralen Einbindung.
Boomeritis meint etwas wie ein Krankheitsbild, diagnostiziert an etlichen Vertretern der eigenen Generation. Welches sind die Symptome? Neben vielem Positiven, das den Boomern zu verdanken ist - ihrer großen Vitalität, Kreativität und ihrem Idealismus in Bereichen von der Musik bis zur Computertechnologie, von politischen Aktionen über Lebensstile bis hin zu Bürgerrechten und ökologischer Sensibilität -, wird ihnen auch eine gehörige Portion Ichbezogenheit und Narzissmus bis hin zur "heroischen Selbstinflation" bescheinigt. Wilber zählt sich selbst dazu und schließt sich der Diagnose trotzdem an. Selbstironisch malt er sie aus: "Wir sind nicht damit zufrieden, einfach eine gute Idee zu haben; wir müssen gleich das neue Paradigma verkünden, das eine der großartigsten Wandlungen in der Geschichte der Menschheit verspricht. Wir wollen nicht bloß Flaschen und Papier wiederverwenden; wir müssen uns selbst vielmehr theatralisch als Retter des Planeten und von Gaia sehen und die Göttin wiederauferstehen lassen, die von früheren Generationen brutal unterdrückt wurde und die wir endlich wieder zu ihrem Recht kommen lassen wollen. Wir sind zwar unfähig, unseren Garten in Ordnung zu halten, aber wir müssen das Gesicht des gesamten Planeten durch die erstaunlichste globale Erweckungsbewegung verändern, die die Geschichte jemals erlebt hat."
Die Boomeritis oder die Kultur des Narzissmus ist für Wilber die Antithese zur integralen Kultur, da in ihr das isolierte, narzisstische Ich sich und seine Bedeutung im Kontext erkannter Teilwahrheiten maßlos aufbläht und darüber hinaus zu einer Kommunion mit der wirklichen Welt und ihren Problemen eigentlich nicht bereit ist. In dem auf Deutsch nicht vorliegenden "Boomeritis" untersucht er an zahlreichen Einzelbeispielen, wie sich die Boomeritis in Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft auswirkt. Für die Linie des hier interessierenden "Ganzheitlich handeln" ist aber die Analyse wichtig, aufgrund welcher Faktoren es zu diesem ungesunden Narzissmus einer ganzen Generation kommen konnte. Hier treten die "Wellen der Existenz" auf den Plan.
Entscheidend kommt Wilber in seiner Theoriebildung das entwicklungspsychologische Denken zu Hilfe, das sich während des 20. Jh. gerade auch in der angelsächsischen Welt zunehmend ausgebreitet hat. Eine Evolution des Bewusstseins hat sich durch die Arbeiten dutzender von Autoren immer klarer herausgeschält. Wilber beruft sich hierfür neben Jürgen Habermas auf Abraham Maslow, Jan Sinnot, Cheryl Armon, Jenny Wade, Robert Kegan und viele andere. Insbesondere greift er in seinen neuesten Büchern einen Ansatz auf, der von Clare Graves vorgestellt und von Don Beck und Christopher Cowan weiterentwickelt und verfeinert wurde, in den USA als Spiral Dynamics bekannt (nicht zu verwechseln mit der "Spiraldynamik", einer hiesigen Form der Physiotherapie). Das menschliche Bewusstsein durchläuft in seiner ontogenetischen Entwicklung bestimmte Stadien oder Stufen oder Wellen der Existenz, die ihm jeweils spezifische Grundmuster seiner intentionalen, emotionalen und kognitiven Orientierung vorgeben. Die Entwicklung verläuft gleichsam spiralförmig und jede neue Bewusstseinsstufe oder Welle, die sie erreicht, sollte die Potentiale der darunter liegenden Stufe oder Welle möglichst effizient integrieren, um bei allen Sprüngen, die die Entwicklung immer auch macht, dennoch eine essentielle Kontinuität gewährleisten zu können. Es sei hier aber sogleich angemerkt, dass Wilber nichts ferner liegt als ein starres Kästchen-System mit scharfen Grenzen und er die Sache vielmehr so darstellt, dass die Wellen sich überlagern und Prozesse insbesondere benachbarter Ebenen selbstverständlich immer wieder auch ineinander greifen.
Beck und Cowan und im Anschluss an sie Wilber bezeichnen diese Ebenen oder Wellen der Existenz auch als Meme. (Mem leitet sich vermutlich ab von gr.: Mnem, ursprünglich: Gedächtnis, Denkmal, in der evolutionistischen Erkenntnistheorie jedoch ein Ausdruck für Leitideen, die die Ausrichtung denkender Individuen und Gemeinschaften auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis charakterisieren.) Zur besseren Unterscheidbarkeit werden diese Meme von ihnen mit bestimmten Farbennamen gekennzeichnet. In teilweiser Anlehnung an den Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser werden die ontogenetischen Wellen oder Meme von diesen Theoretikern parallel zu den Stufen art- und kulturgeschichtlicher Entwicklung gedeutet. Wilber führt dazu aus, dass jede memische Welle ihre Vorläuferin transzendiert und inkorporiert, also über sie hinausgeht und sie doch zugleich in ihren Gesamtaufbau umfängt und einbindet. Die in Frage kommenden acht Meme der Spiral Dynamics lesen sich in der Darstellung Wilbers aufsteigend wie folgt:
1. Beige: Archaisch-instinktiv. Es geht ums nackte, körperliche Überleben, wie beim Neugeborenen, bei Behinderten sowie bei den frühesten menschlichen Gemeinschaften (Überlebenshorden);
2. Purpur: Magisch-animistisch. Abhängigkeit von Naturgeistern, die es zu beschwören gilt, ethnische Stämme, Ahnenkulte, anzutreffen aber auch unter Banden und Sportmannschaften;
3. Rot: Mächtige Götter. Das Ich beginnt sich vom Stamm zu unterscheiden und tritt machtvoll, egozentrisch, impulsiv und heroisch auf, Untergebene, feudale Reiche - Macht und Ruhm, Kinder im Trotzalter, Bandenführer, James-Bond-Schurken;
4. Blau: Mythische Ordnung. Ordnung, Zweckhaftigkeit, Gerechtigkeit, jeweils verbürgt durch eine herrschende Macht, antike Nationen, gesellschaftliche Hierarchien, die zur Starre tendieren, fundamentalistische Religion, Gehorsam, mythische Zugehörigkeit und konventionelle Einstellung, Pfadfinderalter;
5. Orange: Errungenschaften der Wissenschaft. Das Ich entkommt der Herdenmentalität des ‚Blau', individualistische Wahrheitssuche: experimentell, objektiv, mechanistisch, operational, die Welt wird zur Maschine und zum Schachbrett, auf dem der Klügere gewinnt und als Sieger Vorteile einheimst, während der Verlierer das Nachsehen hat, Kolonialismus, Aufklärung, Wall Street, Kalter Krieg, Materialismus, Liberalismus und Neoliberalismus;
6. Grün: Das sensible Ich. Übersteigt ‚Orange', will Habgier und Egozentrik überwinden, Gemeinschaftsgefühl, Netzwerke, Fürsorge Benachteiligten gegenüber, Wertschätzung Gaias, antihierarchisch, sich vermischende Gruppen, durchlässiges Ich, Subjektivität, Wertegemeinschaften, Wiederbelebung des Spirituellen, egalitär, relativistisch und pluralistisch, Tiefenökologie, Ökofeminismus, humanistische Psychologie, political correctness, Menschenrechtsbewegung.
Bis hierher handelt es sich um Wellen bzw. Meme innerhalb der sogenannten Primärschicht. Denn bis hierher bleibt das Individuum in einseitiger und ausschließlicher Identifikation der kognitiven und motivationalen Orientierung "seiner" Ebene verhaftet. Die Gefahr der Boomeritis droht insbesondere dem grünen Mem. Für dieses geht es nun aber eigentlich um den Sprung ins Sekundärschicht-Bewusstsein, in dem das Individuum die Fähigkeit erwirbt, intentional von der eigenen Ebene abzusehen, sich in die Sichtweisen niedrigerer Ebenen zu versetzen und die ihnen zugehörigen Potentiale integral aufeinander zu beziehen. Innerhalb dieser Sekundärschicht unterscheidet Wilber im Sinne der Spiral Dynamics dann zwei weitere Meme:
"Das umfangreiche Datenmaterial von Graves, Beck und Cowan weist darauf hin, dass es zumindest zwei größere Wellen in diesem Sekundärschicht-Bewusstsein gibt:
7. Gelb: Integrativ. Das Leben ist ein Kaleidoskop natürlicher Hierarchien (Holarchien), Systeme und Formen. Höchste Priorität haben Flexibilität, Spontaneität und Funktionalität. Unterschiede und Pluralitäten können in voneinander abhängige, natürliche Fließvorgänge integriert werden. Egalitarismus wird durch natürliche Abstufungen von Rangordnung und Leistung ergänzt. Wissen und Kompetenz sollten Vorrang haben vor Macht, Status und Gruppenempfindlichkeiten. Die vorherrschende Weltordnung ist das Ergebnis der Existenz verschiedener Ebenen der Wirklichkeit (Meme) und der unvermeidlichen Muster der Auf-und-ab-Bewegungen innerhalb der dynamischen Spirale. Gute Regierung erleichtert das Emergieren von Entitäten auf allen Ebenen zunehmender Komplexität (verschachtelte Hierarchie). [...]
8. Türkis: Holistisch. Universell-holistisches System, Holons/Wellen integrativer Energien; vereinigt Gefühl mit Wissen; multiple Ebenen verwoben zu einem bewussten System. Lebendige und bewusste universale Ordnung, die nicht auf äußeren Regeln (‚Blau') oder Gruppenbanden (‚Grün') beruht. Eine ‚große Einbindung' (T. v. A.) ist möglich, in der Theorie wie in der Aktualität. Manchmal beinhaltet dieses Mem das Entstehen einer neuen Spiritualität als Netzwerk des gesamten Seins. ‚Türkis'-Denken nutzt die ganze Spirale, sieht multiple Ebenen von Interaktion, entdeckt Harmonien, die mystischen Kräfte und die immer gegenwärtigen Fließzustände, die jede Organisation durchdringen. [...]"
Im Fortgang seiner Betrachtungen kommt Wilber später auch noch zu einer neunten Farbe, ‚Koralle', die mit den subtilen, kausalen und non-dualen, d. h. in seiner Sprache: mit den eigentlich transpersonalen Bewusstseinszuständen zusammenhängt (welche er in mehreren seiner Büchern tiefgründig und unter vielfältigen Aspekten behandelt hat). Die Auswahl der genannten Farben scheint übrigens nicht willkürlich vorgenommen zu sein. Vielmehr vertieft Wilber die Sicht auf die Meme in den umfangreichen Anmerkungen im Apparat um die Perspektive der sieben Lotusblumen oder Chakren, den zentralen Organen der übersinnlichen Erkenntnisorganisation des Menschen, die nach Wilbers Anschauung eine notwendige Grundlage für jeden spirituellen Fortschritt darstellen.
Das entwicklungspsychologische Modell, das Wilber in der obigen Art auf das Gesamtgeschehen auf dem Planeten anwendet, lässt nun solche Erscheinungen wie den Gaia-Holismus Lovelocks und die damit verbundenen intellektuellen, emotionalen und intentionalen Einstellungen als charakteristischen Ausdruck des grünen Mems verstehen. Der Mensch ist, wie schon angedeutet, den Auffassungen der Gaia-Wissenschaft zufolge bloß der Vertreter einer Spezies unter vielen. Was zählt, ist das Gewebe des Lebens, denkbare Stufungen aufgrund unterschiedlich weit entwickelter Bewusstseinskapazitäten erscheinen dem grünen Mem als sekundär. Sie zur Grundlage von Handlungskonzepten machen zu wollen, ist aus seiner Sicht ganz unzulässig. Es setzt sich dagegen mit der Anklage zur Wehr, hier würde versucht, ein neues hierarchisches Denken zu etablieren. Weil aber einer derartigen Argumentation und dem Konzept, auf dem sie basiert, jede Dimension der Tiefe - bis hin zu der dem Menschen möglichen spirituellen Verwirklichung - abgeht, handelt es sich bei dem an dieser Stelle exemplarisch angeführten Gaia-Holismus und verwandten "tiefenökologischen" Ansätzen für Wilber um das, was er dennoch "Flachland-Holismus" nennt, eben gerade im Bereich des grünen Mems weit verbreitet.
Die Boomeritis, jene ungesunde Einseitigkeit, in die typischer Weise das grüne Mem abgleiten kann, wird vor diesem Hintergrund ebenfalls besser verständlich. Denn grundsätzlich haben alle Meme der Primärschicht die Tendenz, sich gegen Meme von anderer Farbe abzugrenzen, und ‚Grün' tut dies selbstverständlich auch - nach "unten" wie nach "oben": Es wehrt sich gegen jedes mythisch begründete, hierarchisch legitimierte Ordnungsdenken des blauen Mems, gegen allen ausbeuterischen, von Erfolgszwängen getriebenen Materialismus und Kapitalismus des orangenen Mems, ebenso aber auch gegen die Ansätze des sekundärschichtigen integrativen, gelben Mems. Denn dieses ist bestrebt, dem grünen horizontalen Holismus des großen Gewebes des Lebens die Dimension der Tiefe oder Vertikalität hinzuzufügen. Durch letztere treten allerdings neuerlich hierarchische, besser: holarchische Gliederungen des Seins und Bewusstseins zutage. ‚Grün' verwechselt in seiner Abwehr überkommene, blaue Herrschaftshierarchien und in der Ordnung des Seins selbst begründete Wachstumshierarchien. Die antihierarchische Haltung des grünen Mems beruht Wilber zufolge nicht zuletzt darauf, dass die mit ‚Grün' verbundene Horizontalität, getragen von umfassendem Gemeinschaftsempfinden und Gleichheitsdenken, der Pluralität der Meinungen und Auffassungen breitesten Raum gewährt. Das einzelne Individuum auf der Stufe des grünen Mems erlebt sich mit seinen eigenen Ideen und Impulsen als ausgeprägt subjektiv und sieht sich in Relation zu den Ideen und Impulsen der anderen, die mit ihm ja völlig gleichberechtigt sind. Es empfindet sich zugleich ganz und gar eingebettet in das plurale, z. B. multikulturelle Gewebe, das auch alle anderen umfängt. Seine Subjektivität geht also einher mit Pluralismus und Relativismus - auch auf dem Gebiet der Theoriebildung und der Frage nach Wahrheit. Für Wilber ist das grüne Mem somit deutlich gekennzeichnet durch seinen pluralistischen Relativismus. Dieser bietet jedoch zugleich die günstigsten Voraussetzungen dafür, dass das Individuum des grünen Mems sich dauerhaft auf seine antihierarchische Subjektivität fixiert: Es toleriert doch schließlich die Subjektivität aller anderen - so soll man es selbst in seiner eigenen Subjektivität denn bitte ebenfalls nicht stören! In dieser Attitüde kann es aber umgehend in jenen Narzissmus verfallen, von dem oben als dem deutlichsten Symptom der Boomeritis die Rede war. Wilber fasst den Gedanken so zusammen:
"Da der pluralistische Relativismus eine derart subjektivistische Haltung hat, ist er ganz besonders leichte Beute des Narzissmus. Und genau das ist die Crux des Problems: Pluralismus wird zum Supermagneten für Narzissmus. Der Pluralismus wird zu einem unbeabsichtigten Nährboden für die Kultur des Narzissmus und der Narzissmus ist der große Widersacher einer integralen Kultur im Allgemeinen und einer Theorie von Allem im Besonderen (weil der Narzissmus sich weigert, über seinen eigenen subjektiven Horizont hinauszuschauen und daher keine anderen Wahrheiten gelten lassen kann als seine eigenen)."
Das positive, für das grüne Mem typische Gemeinschaftsgefühl, die mitfühlende Fürsorglichkeit bieten aber mögliche Ansätze, von denen aus das ‚sensible Ich' des grünen Mems die Gefahr des Narzissmus überwinden könnte. Alle Bewusstseinsentwicklung, so Wilber, ist nämlich gekennzeichnet durch eine immer weiter voranschreitende, stufenweise Überwindung der ursprünglichen Egozentrik (im Bereich des beigen, archaisch-instinktiven und des purpurnen, magisch-animistischen Mems noch gänzlich unbewusst oder vorbewusst). Der Fortschritt von ‚Rot' (erstmalig bewusste Stufe der Egozentrik) über ‚Blau', ‚Orange' und ‚Grün' zum ‚Gelb' und ‚Türkis' des Sekundärschicht-Bewusstseins entspricht zugleich einem Weg von - stetig abnehmender - Egozentriertheit über Ethno- und Soziozentriertheit und hin zur Weltzentriertheit. Der Übergang von Resten narzisstischer Egozentrik zu der auf seiner Ebene latent bereits veranlagten Weltzentriertheit, die Transzendierung von ‚Grün' nach ‚Gelb' also, fällt dem grünen Mem jedoch aufgrund seiner antihierarchischen, subjektivistischen Verhaftung besonders schwer. Der Pluralismus wird geradezu zum Unterschlupf und zur Zuflucht für eine Reaktivierung einiger niedriger und stark egozentrischer Meme.
All dies liest sich im Original viel besser. Ken Wilber appelliert, um es auf den Punkt zu bringen, vor allem an seine eigene Generation, die Gefahr durch die Boomeritis zu durchschauen und zu überwinden, um mit ihrem Entwicklungspotential und geeinten Kräften an der Verwirklichung wahrhafter integraler Visionen mitzuarbeiten. Denn selbstverständlich hat das grüne Mem, dem sie zu weiten Teilen angehört, - hervorgegangen aus dem holarchischen Prozess der Transzendierung von ‚Beige', ‚Purpur', ‚Rot' und ‚Blau' - entscheidende positive Aspekte als Voraussetzung dafür, dass das Ganze überhaupt weitergeht.
Ein neues kulturelles Segment hat der Soziologe Paul Ray herausgefunden, die sogenannten "Kulturell Kreativen" (vgl. Wolfgang Schmidt-Reinecke in Novalis 3/4, 2001), die mit ca. 24% Anteil an der US-amerikanischen Bevölkerung die bislang übersehene Gruppe der "Integralen Kultur" repräsentieren (etwa 44 Millionen Menschen). Wilber meldet hier Zweifel an, "wie integral diese Gruppe wirklich ist". Er sieht nämlich Indizien dafür, dass sie nicht in der sekundärschichtigen Schau-Logik wurzelt (bei Wilber die Ausgangsbedingung für integrative Bewusstseinsstufen; Steiner spricht hier in seiner Anthroposophie von Bewusstseinsseele), sondern dass sie typische Merkmale des grünen Mems aufweist, antihierarchisch ausgerichtet ist und einen Flachland-Holismus propagiert. Die "Kulturell Kreativen" befinden sich Wilber zufolge im Gros auf einer individualistischen Stufe und nicht auf einer autonomen oder integrierten, wie dies als Hinweis auf Qualitäten des gelben Mems gelten dürfte. Anders als Paul Ray, der bei seinen Zahlen von Umfrageergebnissen ausgeht (die "Kulturell Kreativen" bereiten für Westeuropa übrigens ähnliche statistische Erhebungen vor wie die von Ray zugrunde gelegten), denkt Wilber an etwa 1-2% der US-Bevölkerung, die eine integrale Sekundärschicht-Haltung einnehmen. Dennoch bestehen Chancen. Wilber begründet sein beharrliches "Herumhacken" auf Boomeritis, "Kulturell Kreativen" und grünem Mem mit diesen Worten:
"Wenn die ‚Kulturell Kreativen' in die zweite Hälfte ihres Lebens gelangen, ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem eine weitere Bewusstseinstransformation besonders leicht erfolgen kann, nämlich die vom ‚Grün' zum gereiften Sekundärschicht-Bewusstsein. Wie ich später zu zeigen versuche, ist diese Transformation zum integralen Sekundärschicht-Bewusstsein (und weiter zu wahrhaft transpersonalen Wellen) am einfachsten durch integrale transformative Praktiken zu bewerkstelligen. Ich kritisiere die ‚Boomeritis' deshalb in der Hoffnung, dass durch die Diskussion über einige der Hindernisse für die Transformation diese Transformation bereitwilliger erfolgen kann."
Hier sollen nun, nachdem Wilbers Überlegungen zum grünen Mem etwas ausführlicher nachgezeichnet wurden, noch einige Wegweiser zu den weiteren Stationen in seinem neuen Buch "Ganzheitlich handeln" aufgestellt werden. Wilbers integrale Vision kommt mit den Memen der Spiral Dynamics allein nicht aus. Um eine tatsächlich integrale (mindestens dreidimensionale) Landkarte zeichnen zu können, bedürfe es vielmehr der Differenzierung alles Entwicklungsgeschehens nach den Bereichen, innerhalb derer sie beobachtet werden. Und so rekurriert Wilber auf das früher schon von ihm entwickelte Konzept der vier Quadranten. Im Wesentlichen gehe es um vier Bereiche, nämlich:
• äußerlich wahrgenommene Einzelphänomene, z.B. der Körper des einzelnen Menschen, die Gegenstände der klassischen Naturwissenschaften;
• äußerlich wahrgenommene Phänomene in multipler Vernetzung, z.B. soziale oder ökonomische Systeme, das Gewebe des Lebens der Flachland-Holisten gehört ebenfalls hierher;
• individuelle Innerlichkeit, z. B. die Stufen der Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen;
• kollektive Innerlichkeit, z. B. Sprache und Kultur, durch die verschiedene einzelne Träger individueller Innerlichkeit miteinander kommunizieren können.
Man denke sich ein Koordinatenkreuz, das ein Feld in vier Quadranten unterteilt (s. Abb.). Die beiden rechten Quadranten repräsentieren die Felder äußerer Wahrnehmung, Außen-Aspekte, oben im Sinne der Einzelphänomene, unten im Sinne vernetzter Systeme; die beiden linken Quadranten stehen für die Felder der Innerlichkeit, Innen-Aspekte, individuell: oben, kollektiv: unten. Wilber nennt diese Quadranten OL (oben/links), UL (unten/links), OR (oben/rechts) und UR (unten/rechts). In dem ersten Teil seiner "Kósmos"-Trilogie, "Eros, Kosmos, Logos" hat er das Vier-Quadranten-Modell ausführlich vorgestellt. In derselben Arbeit findet sich auch schon eine detaillierte Anwendung des Stufen- oder Wellen-Modells auf die vier Quadranten, nicht in der Sprache der Meme (Spiral Dynamics) sondern in derjenigen der verschachtelten Wachstumshierarchien oder Holarchien, derzufolge umfassendere Holons (Teile/Ganze) darunter liegende Holons transzendieren und zugleich integrieren. Wilber bleibt beweglich und spricht heute auch von Memen, die Grundüberlegungen jedoch sind dieselben.
Mit Hilfe des vollständigen Konzeptes (alle Quadranten, alle Ebenen, alle Entwicklungslinien) durchforstet Wilber nun im weiteren Verlauf von "Ganzheitlich handeln" sämtliche Fragenkomplexe, die in der heutigen Welt von vordringlichem Interesse sind: Das Verhältnis von Religion und Spiritualität zu den "engen Wissenschaften", Fragen nach tragfähigen politischen Strukturen für die Zukunft und adäquaten Formen des Regierens, die Medizin, das Geschäftsleben, die Erziehung, die Erforschung der Natur des menschlichen Bewusstseins, mögliche Formen einer engagierten Spiritualität, natürlich die Ökologie, die Dritte-Welt-Problematik, die Frage nach dem Umgang mit Minderheiten, ja, auch die Frage nach dem "Terror von morgen" und wie man ihm zuvorkommen könnte, den im Zuge der Globalisierung sich immer deutlicher ankündigenden "Zusammenprall der Zivilisationen" (Samuel P. Huntington) und schließlich auch die für eine künftige globale Politik nicht unbedeutende Frage nach dem immer schon stattfindenden "Zusammenprall der unterschiedlichen Meme" (hier interessante Anmerkungen Wilbers zur Phänomenologie der deutschen Wiedervereinigung und zu den jüngsten Konflikten auf dem Balkan).
Konsequenz dessen, was ein solcher Rundum-Blick zeigt, ist für Wilber, dass - auch, wenn man nicht im Entferntesten erwarten dürfe, dass innerhalb einer absehbaren Zeit ein Großteil der Weltbevölkerung beispielsweise eine Entwicklung in die Richtung des gelben, integrativen Mems vollziehen und damit alles gut würde, - es doch nichts weniger als notwendig und unerlässlich sei, dass die engagierten Verantwortungsträger in Wissenschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft einen entsprechenden Schritt in möglichst naher Zukunft tun. Das Ganze sei anders als integral nicht mehr zu gestalten. Damit Entwicklung in dieser Richtung stärker in Gang komme, schlägt er schließlich die immer schon von ihm empfohlene "spirituelle Injunktion" vor, d.h. dass die, an die er sich wendet, sich in integralen transformativen Praktiken üben sollten. Dazu heißt es:
"Eine integrale, transformative Praxis versucht, alle grundlegenden Wellen menschlicher Wesen - physische, emotionale, mentale und spirituelle - im Ich, in der Natur und in der Kultur zu üben. Man ist dann so ‚alle Ebenen, alle Quadranten', wie man es auf der jeweiligen Entwicklungsstufe sein kann. Und das ist die kraftvollste Methode, die Transformation zur nächsten Welle in Gang zu bringen [...]. - Befindet sich ein Individuum in der, sagen wir, blauen Welle, dann kann es nicht dauerhaft Zugang zu den höheren Wellen gewinnen, einschließlich die transpersonalen Wellen. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die blaue, ethnozentrische, konventionelle Welle hat noch keinen postkonventionellen oder weltzentrischen Standpunkt erreicht und kann daher nicht sehen, dass der GEIST in allen fühlenden Wesen gleich erstrahlt. Daher kann sie nicht das globale Mitgefühl meistern, welches die Voraussetzung für echtes spirituelles Gewahrsein ist. Diese Individuen können jedoch in einem veränderten Bewusstseinszustand oder durch eine Gipfelerfahrung zeitweilig Zugang zu diesen transpersonalen Bereichen erlangen. - Was können diese Gipfelerlebnisse und was kann Meditation bewirken? Sie können den Menschen helfen, sich von der Stufe, auf der sie sich jeweils befinden, zu entidentifizieren und dadurch zur nächsten Stufe fortzuschreiten."
Ken Wilber bewegt sein Konzept mit großen Schritten vorwärts. Angesichts des enormen Umfangs an Aspekten menschlicher Existenz, die er dabei denkend durchdringt, angesichts dessen, wie er Einseitigkeiten durchschaut und ungeahnte Zusammenhänge aufzeigt, hieße es absichtlich die Augen verschließen, wollte man sein Werk unbeachtet lassen. Offen allerdings bleibt zunächst die eingangs erwähnte gravierende Frage, die früher von anderen schon an alle Universalsysteme der Geschichte (wenn man das Wilbersche Konzept denn als ein solches ansehen will) gerichtet wurde - auch seiner Theorie von Allem gegenüber muss sie aufs Neue gestellt werden, denn sie beantwortet sich nicht beim ersten Hinsehen auf sein Werk: Kann Ken Wilber mit seiner Integralen Philosophie, die die spirituelle Entwicklung des Menschen in die transpersonale Dimension einmünden sieht, dessen individuelle Freiheit und personale Unbedingtheit begründen? Wie steht überhaupt das Personale zum Transpersonalen?
Wer die Grundlagen seines Weltverstehens und seiner individuellen Lebenspraxis der Anthroposophie Rudolf Steiners verdankt, wird nicht nur in der mit einer stringenten Tiefendimension ausgestatteten Ganzheitlichkeit des Wilberschen Denkens, sondern insbesondere auch in der Anwendung des Entwicklungsgedankens auf die Formen des menschlichen Bewusstseins eine Nähe zwischen beiden Ansätzen nicht übersehen können. Auch Rudolf Steiner machte, bereits zu Beginn des 20. Jh., das geistesgeschichtliche Werden der Menschheit durch die verschiedenen Epochen und Kulturen gerade dadurch verstehbar, dass die aufeinander folgenden Stufen des Bewusstseins durch die Geschichte ihre Merkmale von den Stufen der seelisch-geistigen Entwicklung des Einzelwesens empfangen. Die Menschheit durchläuft - eingebettet in einen insgesamt in Entwicklung befindlichen Kosmos, der vom Materiellen bis zum höchsten Spirituellen alle Dimensionen umfasst, - Phasen, in denen die Ausbildung des physischen, des lebendigen, des empfindenden Leibes vorherrscht, später die Ausbildung der empfindenden, der verstandesorientierten und der vollkommen selbstbewussten Seele usw..
Mit Blick auf die Fortentwicklung der Philosophie hatte Steiner eine künftige Philosophie des höheren Selbst gefordert, die den Weg zu den spirituellen Dimensionen eröffnen sollte und erlauben würde, dieselben in ein allgemeines Welt- und Menschenbild zu integrieren (Anthroposophie). Der nähere Vergleich wäre lohnend und aussichtsreich wohl auch der Versuch, das Verhältnis des personalen Seins des Menschen zum transpersonalen Bereich vor dem Hintergrund von Rudolf Steiners ethischem Individualismus näher zu befragen - entwickelt in seiner "Philosophie der Freiheit". Wann beginnt die Diskussion?
Literatur:
Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Bd. I u. II. Schaffhausen 1986.
Liesel Heckmann (Hg.), Moderne Spiritualität. Stuttgart 1997.
Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Bd. I u. II. Freiburg i. Br. 1980.
Jochen Kirchhoff, Räume, Dimensionen, Weltmodelle. Kreuzlingen, München 1999.
Rupert Sheldrake, Die Wiedergeburt der Natur. Bern, München, Wien 1993.
Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. Dornach 1989.
- , Die Philosophie der Freiheit. Dornach 1987.
- , Die Rätsel der Philosophie. Bd. I u. II. Dornach 1974.
Ken Wilber, Das Wahre, Schöne, Gute. Frankfurt 1999.
- , Eros, Kosmos, Logos. Frankfurt 1996.
- , Ganzheitlich handeln. Freiamt 2001.
- , Mut und Gnade. München 1996.
Edith u. Rolf Zundel, Leitfiguren der neueren Psychotherapie. München 1987.
(c) Novalis 2001
erschienen in Novalis 9/10 2001, S. 64-69
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