INTEGRAL WORLD: EXPLORING THEORIES OF EVERYTHING
Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber



powered by TinyLetter
Today is:
Veröffentlichungstermine von Essays (Monat / Jahr) finden Sie unter "Essays".

Boomeritis

Prolog

Ken Wilber

Ich bin das unerwünschte Kind zweier zutiefst verwirrter Elternteile, für einen schäme ich mich, der andere schämt sich meinetwegen. Wir reden alle nicht miteinander, wofür wir alle dankbar sind. (Diese Sachen regen einen mitunter mal auf.) Meine Eltern sind sich inniglich einig in ihrer Ablehnung der Gegenwart; beide wollen sie ersetzen – schnell – mit einem Satz an Einrichtungen, die ihren Neigungen eher entsprechen. Einer will alles niederreißen; der andere alles aufbauen. Man sollte meinen, dass beide für einander gemacht wären und miteinander Hand in Hand gehen würden, eine im transformationalen Himmel gestiftete Ehe. Jahre nach der Scheidung ist niemand mehr so sicher.

Einer von ihnen atmet das Feuer revolutionären Aufbegehrens und möchte die unterdrückenden Mächte eines grausamen und achtlosen Gestern niederreißen, indem er unterhalb der Tünche des zivilisierten Wahnsinns gräbt, um mit inbrünstiger Hoffnung eine ursprüngliche menschliche Güte zu finden, die seit langem von den Brutalitäten einer modernen Welt begraben werden, die von Bösartigkeit blutig geschunden wird. Einer von ihnen starrt verträumt in eine andere Richtung, steht auf Zehenspitzen und bemüht sich, das vernebelte Gesicht der Zukunft zu sehen, einer kommenden Welttransformation entgegen – mir wird gesagt, dass es vielleicht die größte in der Geschichte sein wird – und fängt an ohnmächtig zu werden mit der Seligkeit der wunderschönen Dinge, die sich vor uns entfalten werden; sie ist eine sanfte Person und sieht die Welt auf diese Weise. Aber ich bin verwunschen mit einem Auge von beiden, und ich kann die Welt kaum sehen durch zwei Erdkreise, die die Zusammenarbeit verweigern; schielend starre ich auf das vor mir Liegende, ein Picasso-Universum, wo sich die Dinge nicht richtig aufstellen. Oder sehe ich gerade deswegen vielleicht klarer ?

Dies jedenfalls scheint sicher: Ich bin ein Kind der Zeiten, und die Zeiten zeigen in zwei wild unvereinbare Richtungen. Auf der einen Seite hören wir ständig, dass die Welt eine bruchstückhafte, zerrissene und gequälte Angelegenheit ist, auf dem bebenden Rand des Zusammenbruchs, mit massiven und riesigen Zivilisationsblöcken, die sich mit wachsend entfremdender Absicht von einander entfernen, so sehr, dass internationale Kulturkriege die größte Bedrohung der Zukunft sind. Die Technologie des kybernetischen Zeitalters schreitet mit einem so raschen Tempo voran, dass - wie man sagt – man innerhalb von dreißig Jahren Maschinen haben wird, die an die menschliche Intelligenzebene heranreichen, und zur gleichen Zeit werden Fortschritte in der Gentechnologie, der Nanotechnologie und mit Robotern das mögliche Ende der Menschheit insgesamt bedeuten: Wir werden entweder durch Maschinen ersetzt oder durch eine weiße Pest zerstört – und was für eine Zukunft ist das für einen Jungen ? Im eigenen Land begegnen uns täglich, stündlich, minütlich Beispiele einer aus den Nähten platzenden Gesellschaft: eine nationale Analphabetenrate, die von 5% 1960 auf 30% heute hochgeschossen ist; 51% der Kinder in New York werden unehelich geboren; bewaffnete Milizen sind über Montana verstreut wie Nazibunker an den Stränden der Normandie, gegen die Invasion befestigt; eine Reihe von Kulturkriegen, Geschlechterkriegen, Ideologiekriegen in der akademischen Welt, die sich alle an Bösartigkeit gleichkommen, wenn nicht sogar an Mitteln, die multikulturelle Aggression auf der internationalen Szene. Der Augapfel meines Vaters in meinem Kopf sieht eine Welt pluralistischer Zersplitterung, bereit zur Desintegration, die in ihrem tosenden Kielwasser eine zerfetzte Masse menschlichen Leidens zurücklässt, das die Geschichte noch nicht erlebt hat.

Das Auge meiner Mutter sieht eine ganz andere Welt, die jedoch genauso wirklich ist: Wir werden immer mehr zu einer globalen Familie, und Liebe in jeder Weise scheint die treibende Kraft zu sein. Schauen wir uns die Geschichte der menschlichen Rasse selbst an: von isolierten Stämmen und Horden zu großen Farmerstädten zu Stadtstaaten zu erobernden Feudalreichen zu internationalen Staaten zum weltweiten globalen Dorf. Und nun zu Beginn des Milleniums stehen wir einer erstaunlichen Transformation gegenüber, einer von der Menschheit nie gesehenen, wo eine tiefe und umfassende menschliche Verbundenheit erlebt, wie Eros herrlich durch die Venen aller Lebewesen pulsiert und die Morgendämmerung eines globalen Bewusstseins anzeigt, das die ganze Welt, wie wir sie kennen, verklärt. Sie ist eine sanfte Person und sieht die Welt auf diese Weise.

Ich teile keine ihrer Weltsichten; oder besser, ich teile beide, was mich fast wahnsinnig macht. Ganz klare Zwillingskräfte, wenn auch nicht allein, sind dabei, die Welt zu zerfressen: Globalisierung und Desintegration, vereinigende Liebe und zersetzende Todeswünsche, verbindende Freundlichkeit und entzweiende Grausamkeit, mit einem kolossalen Ausmaß. Der unerwünschte, schizophrene, besitzergreifende Sohn sieht die Welt wie durch zersplittertes Glas, er bewegt seinen Kopf langsam vor und zurück, während er darauf wartet, dass sich zusammenhängende Bilder formen, dabei wundert er sich darüber, was das alles sein soll.

Wie sich die Picasso-ähnlichen Bruchstücke von selbst zu einer Art postmoderner Kunst sammeln, beginnen fließende Bilder zu erstarren: vielleicht sind wirklich integrative, verbindende, vereinigende Kräfte in der Welt am Werk, die Liebe eines Gottes oder einer Göttin mit sanfter Überzeugungskraft, die langsam aber unauslöschlich menschliches Verständnis, Fürsorge und Mitleid verstärkt. Und wahrscheinlich gibt es gleicherweise bösartig ausgerichtete Ströme, die jede dieser integralen Umarmungen unterbrechen. Und wahrscheinlich sind sie wirklich miteinander im Krieg, in einem Krieg, der nicht enden wird, bevor einer von ihnen tot ist – eine vereinte Welt oder eine zerrissene Welt: Liebe auf der einen Seite oder Blut über dem ganzen neuen Teppich .

Was das ganze Jahr über sofort meine Aufmerksamkeit erregte, war die drei-Dekaden-Marke des Armageddon–Verhängnisses, die von morgen her auf mich zurast: in dreißig Jahren (dreißig Jahren !) werden Maschinen eine menschliche Intelligenzebene erreichen und darüber hinaus. Und dann werden menschliche Wesen fast gewiss durch Maschinen ersetzt – sie werden uns schließlich ausstechen. Oder eher werden wir – menschliche Wesen, unsere Seelen oder unser Bewusstsein oder so etwas – in die Computer herunterladen, wir werden wohl unsere Seelen in neue Maschinen übertragen – und was für eine Zukunft ist das für einen Jungen ?

Dies war das Jahr, in dem das geschah, was mein Schicksal unwiderruflich veränderte, ein Jahr im Leben einer menschlichen Maschine, die wunderbarerweise ins Leben kam. Es war ein Jahr von Ideen, die meinem Kopf Schmerzen zufügten, die mein Gehirn wund und geschwollen machten, das es sich buchstäblich ausdehnte und gegen meinen Schädel stieß, meine Augen hervortreten ließ, an meinen Schläfen klopfte, in die Welt hineinriss. Von diesm Jahr kann ich mich fast überhaupt nicht an geografische Örtlichkeiten erinnern. Ich erinnere mich an wenige Landschaften, wenig wirkliche Stellen, kaum ein Äußeres, nur ein Strömen von Unterhaltungen und brennenden Visionen, die mein Leben ruinierten, wie ich es gekannt hatte, es mit etwas ersetzten, das die Menschheit nie anerkennen wird, mich unsterblich zurückließen, mit Flecken auf meinem Fleisch, in den Himmel hinein lächelnd


Übersetzt von Hans-Peter Lin