INTEGRAL WORLD: EXPLORING THEORIES OF EVERYTHING
Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber



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Ken Wilber Unplugged

"I'm just a kind of a ... guy"

„Niemand, selbst Jung nicht, hat einen so großen Beitrag wie Wilber geleistet, die westliche Psychologie für die bleibenden Erkenntnisse der großen Wahrheitstraditionen der Welt zu öffnen"

Huston Smith

Ken Wilber ist der bedeutendste Vorreiter des integralen Paradigmas. Als „Denker aus Passion" hat er inzwischen 19 Bücher verfasst, die in 20 Sprachen übersetzt wurden. Weltweit ist er der einzige Autor, dessen gesammelte Werke schon zu seinen Lebzeiten erschienen sind.

„Die Begriffe integral und holistisch kann man auf vielerlei Weise erklären," so Ken Wilber. „Meist sagt man, dass sich dahinter ein Ansatz verbirgt, der Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST zu integrieren, d.h. die ganze große Verschachtelung des Seins einzuschließen versucht. Die Physik befasst sich mit der Materie, die Biologie mit dem Körper, die Psychologie mit der Psyche, die Theologie mit der Seele und die Mystik mit der unmittelbaren Erfahrung des GEISTES, weshalb ein integraler Wirklichkeitsbegriff Physik, Biologie, Psychologie und Mystik umfassen muss".

Also ALLES umfassen muss, können wir ergänzen.

Jemand, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Wissenschaft und Mystik zu integrieren, muss nicht nur von einer überwältigenden Schaffenskraft beseelt sein. Die Tatsache, dass er sich notwendigerweise zwischen zwei Stühle setzt und sich zur Zielscheibe akademischer Kritik macht, erfordert auch gewisse Charaktereigenschaften: Mut, Konsequenz, Integrität und nicht zuletzt den unerschütterlichen Glauben an die eigene Intuition, gepaart mit messerscharfer Unterscheidungskraft.

Das alles hat er, Ken Wilber, der „Einstein der Bewusstseinsforschung". Man ahnt, dass er es haben muss.

Ken kommt uns an der Tür seines Lofts in Denver lachend entgegen: 1,90 groß, schlank, durchtrainiert; in Jeans, T-Shirt und Joggingschuhen. Lässig, ohne Allüren.

Es ist der 11. Mai 2002, 10 Uhr vormittags, und wir beabsichtigen heute, ein Interview „der leichten Art" mit ihm zu machen. Wir, das sind Christina Kessler, Kulturanthropologin und Autorin des Buches „Amo ergo sum", Anne Devillard, Chefredakteurin der Zeitschrift „NATUR & HEILEN" und Bob Richards, Vize-Präsident des „Integral Institute".

Ein Interview der leichten Art bedeutet für uns zum einen, die komplexen und für viele Leser schwer zu verstehenden Hauptgedanken Wilbers einmal auf einen zugänglicheren Level zu bringen, zum anderen aber auch, Ken als privaten Menschen zu zeigen. Für Ken selbst, der sich vor zwei Jahrzehnten von jeder Art Öffentlichkeitsarbeit zurückgezogen hat und erst seit der Gründung des Instituts wieder „unter die Leute geht", ist dies in letzter Zeit ein Anliegen geworden. Er will nicht zum Mythos hochstilisiert werden, sondern als das gesehen werden, was er wirklich ist – mit seinen eigenen Worten: „just a kind of a... guy."

Nun sitzt er vor uns, dieser Kerl, und bevor wir loslegen, versuchen wir, aus dem „Auge des Betrachters" ein Bild für den Leser zu erstellen.

Ken hat eine schöne Stimme, die Kraft und Sensibilität zugleich ausdrückt. Seine Sprache ist geradlinig, äußerst spezifiziert, häufig kritisch und bisweilen sogar beißend, aber sie wird stets von dieser warmherzigen Stimme getragen, die alles, was er sagt, einfach liebenswert macht. Er ist zuvorkommend und fürsorglich, manchmal jungenhaft schüchtern, und in gewissen Momenten, etwa wenn er über mystische Themen spricht, schwingt sich ein Unterton von Weichheit ein.

Außerdem hat er das ansteckendste Lachen, das man sich vorstellen kann, laut und schallend. Es ist ihm eine Art von Humor zu eigen, der darauf schließen lässt, dass er das Treiben der Welt und nicht zuletzt sich selbst, mit dem amüsierten Auge des Beobachters betrachtet.

Zweifellos eine tolle Mischung. Ken taucht mit seinem ganzen Sein ein in das, was er sagt. Dies verleiht ihm nicht nur Präsenz und Intensität, sondern vor allem Wahrhaftigkeit. Wilber ist, was er sagt, denkt und ausdrückt. Er verkörpert Vielfalt und Zentrierung zugleich. Es lässt sich nicht leugnen, dass er dadurch eine ganz besondere Anziehungskraft hat. Es ist unmöglich, ihn nicht zu mögen – vorausgesetzt man hat die Chance, ihm persönlich zu begegnen.

Wir sind alle Pioniere

Christina Kessler, Anne Devillard: Ken, zur Zeit genießt Du besonders in Deutschland große Popularität. Arbeits- und Gesprächskreise, Institute usw., die sich mit Deinen Theorien beschäftigen, schießen wie Pilze aus dem Boden. Es hat den Anschein, dass die Deutschen aufgrund ihres philosophischen Erbes eine besondere Affinität zu Deinen Überlegungen haben.

Ken: Ich selber empfinde mich als nordeuropäischen Denker mit südeuropäischem Lebensstil. Alle großen systematischen Denker – von denen die meisten Deutsche waren – sind wirklich außergewöhnlich. Wenn wir die Philosophen der westlichen Tradition betrachten, kommen tatsächlich 70 oder 80 % aus dem deutschsprachigen Raum. Ich denke, dass wohl deshalb eine bestimmte Sympathie mit den Schritten, die ich zu gehen versuche, besteht. Diese Schritte wurden bereits von einigen der großen europäischen Denker vorbereitet, z. B. den Idealisten, den Naturphilosophen und der ganzen Tradition der integrativen Vernunft. Das war bereits transrationale Spiritualität.

Und was den südeuropäischen Lebensstil betrifft: Ich liebe es ganz einfach, am Strand zu liegen, Wein zu trinken und Pasta zu essen.

Heute erleben wir einen Zeitabschnitt in der Geschichte der Menschheit, in dem uns erstmals das Wissen und die Einsichten aller Kulturen dieser Welt in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Es ist wirklich umwerfend, sich das klar zu machen. Und das Kennzeichnen des integralen Anliegens, ja seine Keimzelle überhaupt, ist, die Essenz dieses Wissens herauszukristallisieren.

CK, AD: Ja, es ist ein einzigartiger Augenblick in der Weltgeschichte und deshalb sind die Chancen für positive Neuerungen sehr groß.

Ken: Richtig, das geschah niemals zuvor. Die Herausforderungen sind groß, aber auch die Belohnungen, und wir sind alle Pioniere. Was ich am Integralen mag: Es verwandelt und vervollkommnet unser Wissen. Und was ich daran mag, ein Pionier zu sein, ist, dass du ein absoluter Idiot sein und trotzdem einen bedeutenden Beitrag leisten kannst.

CK, AD (lachend): Nun, von Dir kann man nicht gerade behaupten, dass Du ein Idiot bist. Du bist der Pionier der neuen integralen Philosophie, die sich gerade durchzusetzen beginnt. Viele Menschen finden Deine Bücher jedoch schwierig zu lesen ...

Ken (neckend): Nicht die Deutschen!

CK, AD: Doch, auch...

Ken (lacht) Nein, nur die Amerikaner!

CK, AD: Nein, es ist wirklich so. Nicht einmal 50 % der Leser verstehen Deine voluminösen Arbeiten in einer Weise, dass sie Deine Gedanken wirklich auf den Punkt bringen und mit ihnen etwas anfangen können. Viele meinen, Ken Wilber lesen zu müssen, klappen aber nach ein paar hundert Seiten das Buch wieder zu, weil sie einfach überfordert sind.

Ken: Ich verstehe, ich verstehe.

CK, AD: Deshalb ist es wichtig - und nicht nur wichtig, sondern notwendig...

Ken: ... es gemeinverständlich darzustellen, es zugänglicher zu machen.

CK, AD: Ja. Eben darum geht es unserer Meinung nach im Augenblick. Deshalb ist es unser heutiges Anliegen, deine Hauptgedanken einmal in einer leicht verständlichen Form darzustellen. Deine Ideen sind wichtig für unsere Zukunft und deshalb müssen wir sie verstehen.

Ken: Wenn das Thema auf diese Dinge kommt, habe ich üblicherweise ein paar Jokes parat. Nehmt diese nicht zu wörtlich. Aber wenn Ihr an wirklich schwierige Autoren denkt – jeder deutsche Philosoph, dessen Name mit einem H beginnt, ist schwierig zu lesen: Horkheimer, Hegel, Heidegger, Husserl, Habermas. Die sind wirklich schwierig. Ken Wilber ist weit entfernt von jenen deutschen Philosophen, deren Namen mit einem H beginnen. I´m kidding. I´m joking.

CK: Ja. Habermas z. B. ist wirklich schrecklich zu lesen. Während meiner Studienzeiten habe ich ihn gehasst. Ich habe ihn gehasst (lachend). Anfangs war ich deshalb erstaunt, ihn in Deinen Arbeiten zu finden.

Ken: Ja, viele Amerikaner haben Habermas erst durch meine Bücher kennengelernt. Ebenso ist es mit Schelling und Fichte. Ich bin durchaus Deiner Meinung. Die Schwierigkeit ist jedoch eine andere: wenn du wirklich ernst genommen werden willst, musst du wie ein Heidegger oder ein Habermas oder ein Husserl schreiben. In der Philosophie und in den akademischen Kreisen herrscht ein bestimmtes Elitedenken. Willst du in diesen Kreisen – besonders in Amerika – ernst genommen werden, musst du gewissermaßen beweisen, dass du zu hochgradig analytischem Denken fähig bist. Nun, in gewissem Sinne werde ich von der akademischen Philosophie nie richtig ernst genommen werden. Ich passe einfach nicht in deren Typ von Spiel, das, so denke ich, extrem begrenzt ist, weil es bestimmten Regeln und Vorschriften folgt und eine Club-Mitgliedschaft erfordert. In der Tat ist das einzige, was du tun musst, um ein offizieller Philosoph zu werden, den Rest der Welt vollständig zu ignorieren. Aus irgendeinem Grund wird ein solcher Charakterzug bei diesen Philosophen hochgeschätzt. Und das verstehe ich nicht.

CK, AD: Aber die meisten Deiner Schriften sind hoch akademisch.

Ken: Aber sie sind leicht zu lesen, oder? Eros, Kosmos, Logos zum Beispiel. Ich bemühe mich, selbst wenn der Grundgedanke äußerst komplex ist, jeden Satz klar auszudrücken. Ich versuche Klartext zu reden. Jeder Baustein des Gebäudes ist sehr, sehr klar. Es ist wie ein Hochhaus mit 42 Stockwerken und all den dazugehörenden Zimmern und Abteilungen – eine sehr komplexe Struktur. Aber wenn du gewillt bist, dich hinzusetzen und es zu lesen, dann ist es trotz seiner 800 Seiten eines der einfachsten, leichtesten Bücher. Jeder Satz macht Sinn und ist, meiner Meinung nach, klar und geradeaus. Wenn die Leute einen tiefen Atemzug nehmen und dann eintauchen, haben sie in der Regel eine gute Zeit. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich meine Arbeit doch gewaltig von dem, was Philosophen normalerweise tun. Wenn die einen Satz formulieren, der einfach und klar verständlich ist, meinen sie gleich, sie hätten ihre Aufgabe verfehlt, die da lautet: einen Gedanken so tiefgründig zu erforschen und so verworren zu formulieren, dass niemand ihn mehr versteht.

CK, AD: Aber auch bei Deinen Büchern muss man vorher zumindest eine Ahnung von der Thematik haben, um mitzukommen. Ohne Vorbildung hat man auch bei Dir keine Chance.

Ken (lachend): Das ist wahr.

CK, AD: Also noch einmal. Wir glauben, es ist nun an der Zeit, dem „normalen Menschen" eine einfache Darstellung zu präsentieren und ihm eine Art Highlight anzubieten, das öffnet und Interesse erweckt. Es ist wichtig, Ken. Es ist wirklich wichtig. Deine Ideen sind wichtig für unsere Zukunft und deshalb müssen auch wir „Normalbürger" sie verstehen

Ken: Ok. Ich werde Euch also einige meiner eher leicht zugänglichen und allgemein verständlichen Versionen offerieren. Warum fangen wir nicht an mit...? (überlegt) Ja, wir beginnen mit einer Zusammenfassung – mit der simpelsten zusammenfassenden Darstellungen, deren ich im Moment fähig bin.

CK, AD: Prima. Wir lehnen uns schon mal zurück (lachend).

All quadrants, all levels

Ken: Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit basiert auf dem Versuch, alle bekannten Formen menschlichen Wissens und menschlicher Erfahrung in ein allumfassendes System oder Modell zu integrieren. Dabei handelt es sich nicht um ein geschlossenes System, wie beispielsweise das Hegelianische, sondern um ein sehr offenes, sehr fließendes, in dem auch Raum für neues Material vorhanden ist.

Bevor ich jedoch zum einfachen Teil komme, muss ich zunächst die technischen Seiten des Modells erklären: alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien, alle Zustände, alle Typen. Manchmal sprechen wir auch von AQAL – eine Abkürzung für „all quadrants, all levels".

Die einfache Version davon ist folgende:

Wenn wir die bekannten Sprachen der Welt anschauen, werden wir feststellen, dass alle ein erstes, zweites und drittes Personalpronomen besitzen. Während der gesamten Evolution der Menschheit gab es also die sehr realen Dimensionen des „Ich", „Du" und „Es". Für das „Du" lässt sich auch „Wir" einsetzen. Also haben wir eine Ich-Dimension, eine Wir-Dimension und eine Es-Dimension. Die Tatsache, dass alle Sprachen diese drei Pronomen besitzen, zeigt, dass es sich dabei um wirklich reale Dimensionen handelt, die in allen Kulturen und allen Evolutionsstadien zu finden sind. Es handelt sich um universelle Dimensionen. Diese spiegeln sich in den Bereichen des Guten, des Wahren und des Schönen wider. Das Schöne z.B. liegt im Auge des Betrachters, dem „Ich" des Betrachters; es ist die ästhetische Dimension. Die objektive Wissenschaft beschäftigt sich dagegen mit dem „Es" bzw. mit Objekten. Ethik und Moral schließlich befassen sich mit der „Wir"-Dimension und dem Guten, das wir uns gegenseitig antun wollen. So stehen das Ich, das Wir und das Es für Kunst, Moral und Wissenschaft - das Schöne, das Gute und das Wahre. Dies sind Dimensionen der Wirklichkeit, die wir überall auf der Welt finden. Deshalb bilden sie die Grundlage meiner Quadranten-Theorie. Wobei das „Es" natürlich in der Einzahl als „Objekt" oder in der Mehrzahl als „Objekte" auftreten kann.

Das ist also der erste Teil: die Quadranten. Dementsprechend ist es die erste Aufgabe – egal mit welcher Thematik wir uns befassen – diese vier Dimensionen, die vier völlig verschiedene Perspektiven einer bestimmten Entität erfassen, abzuchecken. Jede Entität kann auf künstlerische, wissenschaftliche und moralische Art erfassen werden – und keine dieser Seiten darf vernachlässigt werden, wollen wir uns auf eine integrale Art annähern.

Der zweite Teil bezieht sich auf das Spektrum des Bewusstseins, sozusagen auf die Ebenen oder Zustandsformen des Bewusstseins, um sie gleich alle gemeinsam abzuhandeln. Jeder Mensch durchläuft abwechselnd den Wachzustand, den Traumzustand und den formlosen Zustand während des Tiefschlafs. Und es ist offensichtlich, dass aus den verschiedenen Bewusstseinszuständen in gewissem Sinne sehr verschiedene „Welten" entstehen.

Darüber hinaus kennen wir meditative Bewusstseinszustände, intuitive Bewusstseinszustände usw. Jeder Bewusstseinszustand zeigt uns eine andere Welt. Wir können eine komplette Landkarte erstellen aus den uns bekannten Zuständen, die Männer und Frauen auf der ganzen Welt haben: schamanische Bewusstseinszustände, wissenschaftliche, künstlerisch-kreative usw. Und wir können grundsätzlich annehmen, dass sie alle etwas Wichtiges über das Wesen der Wirklichkeit aussagen.

Wenn wir nun jenen zweiten Teil, den wir „all levels" oder „all states of consciousness" nennen mit dem erstgenannten Teil der Quadranten oder den Ich-, Wir- und Es-Dimensionen zusammenbringen, gelangen wir zu der Erkenntnis, dass jeder Bewusstseinszustand in einem subjektiven Sinn betrachtet werden kann – in Begriffen der Ästhetik oder des Selbst-Ausdrucks –, des weiteren auf einer moralischen Dimension, und dass er schließlich auch wissenschaftlich erforscht werden kann. AQAL bedeutet also, dass grundsätzlich jeder Typus menschlicher Erfahrung in einen Gesamtüberblick eingeordnet und wie auf einer Landkarte lokalisiert werden kann. Der Vorteil einer solchen Gesamtschau ist, dass die Beziehungen und Verwandtschaften der verschiedenen Disziplinen, ob Politik, Wirtschaft, Soziologie, Philosophie o.a. auf einen Blick ersichtlich werden. Aber mehr noch: Wenn wir eine komplette Landkarte der menschlichen tradition besitzen, werden wir auch das Eigen-Potential dieser Disziplinen wesentlich effektiver nutzen können. Vergleichbar ist dies mit einer Landkarte der Alpen. Besitzen wir eine gute Karte, so kommen wir schnell und sicher ans Ziel. Besitzen wir dagegen eine schlechte, werden wir an einem Berghang zerschellen. Die meisten der heutigen Disziplinen, seien es Wissenschaft, Medizin oder Erziehungswesen, haben schlechte Karten. Sie sind unvollständig, sie sind partiell, und die Menschen zerschmettern tagtäglich in den Alpen ihrer eigenen Dummheit.

Wir versuchen, das nicht zu tun. Wir finden, dass dies keine gute Sache ist. Deshalb versuchen wir es mit einer mehr integralen Annäherung. Und natürlich versuchen wir – egal was uns unter die Finger kommt – zu bestimmen, einzuordnen usw.

Das Wichtigste an dieser Arbeit ist, mit einer extrem offenen Einstellung heranzugehen. Hier kann man nicht mit Vorurteilen oder Begrenztheiten daher kommen und behaupten, dass ein spezieller Weg der einzige Weg sei, Dinge und Situationen zu betrachten. Der integrale Ansatz ist also einerseits ein radikal pluralistischer Ansatz, andererseits setzt er „das Viele" in einen übergeordneten Rahmen, in dem es nicht nur aneinandergereiht sondern auch systematisch zugeordnet wird. Dieser Rahmen integriert, er verbindet und zeigt auf, dass grundsätzlich alles mit allem zusammenhängt.

Soweit die theoretische Seite. Sie versucht, eine umfassendere und genauere Landkarte der menschlichen tradition zu erstellen. Nun kommen wir zur praktischen Seite. Wie können wir das in unserem Leben anwenden? Wie können wir es für unser eigenes Wachstum, für unsere Transformation nutzen? Was können wir tun, wenn wir uns weiter entwickeln wollen? Wie lässt sich das integrale Modell in Medizin, Erziehungswesen, Politik und in die Planung von Gemeinschaften einbeziehen? Grundsätzlich ist es auf alles anwendbar, denn die Landkarte deckt alles ab. Auch in unserem persönlichen Leben, in der Art und Weise, wie wir einen Betrieb führen, Beziehungen gestalten usw. lässt es sich anwenden. Wir können sehr viel damit machen. Wir können es, wenn wir wollen, auch nur theoretisch studieren. Das würde ich jedoch nicht empfehlen. Es geht darum, es zu praktizieren.

CK, AD (lachend): Das war wirklich eine gute, leicht verständliche Zusammenfassung. Damit sind erst mal alle Fragen beantwortet.

Ken lacht sein typisches Lachen, laut und herzhaft.

Es gibt keinen „einzig wahren" Ansatz

Bob Richards: Nun, ich habe da noch eine Frage. Wir sprachen vorhin darüber, dass wir im Augenblick einen speziell neuen Moment in der Geschichte der Menschheit erleben. Auf der anderen Seite tendieren die Menschen da draußen in Kultur und Gesellschaft dazu, entweder in „traditions" der Moderne oder der Postmoderne zu denken. Auf welche Weise korrigiert das integrale Modell die damit einhergehenden Irrtümer, die sich vor allem in einem Hang zum Absolutismus ausdrücken – indem eine bestimmte Sichtweise zur einzig wahren Sichtweise erhoben wird?

Ken: Mit Hilfe des integralen Modells können wir in der Tat all die üblichen Formen des Absolutismus, alle parteiischen Annäherungen, die ihre Sicht für die einzig wahre halten, aufdecken und korrigieren. Anhand des Quadranten-Modells betrachten wir jedes Thema zunächst aus den Ich-, Wir-, Es- und Sie (ITS) Dimensionen. In den heute üblichen Ansätzen der verschiedenen Disziplinen wird dagegen meist nur einer der Quadranten berücksichtigt, während die Relevanz der übrigen geleugnet wird. Die typischen Naturwissenschaftler z.B. behaupten, dass nur individuelle materielle Objekte wirklich sind. Für sie sind weder Subjektivität noch moralische Dimensionen von Bedeutung. Das einzige, was für sie wirklich wirklich ist, ist dieser Tisch hier, Steine und Felsen, Dinge also, die wissenschaftlich messbar sind. Die Naturwissenschaft erhebt also die Es-Dimension zur einzig gültigen Dimension. Die Systemtheoretiker kommen stattdessen daher und meinen: „Ok, wir stellen das richtig. Wir betrachten die Systeme der Dinge und die Art und Weise, wie sie zusammenpassen." Aber auch sie schauen noch immer auf Objekte – auf Systeme von Flüssen etwa, die das Gebirge beeinflussen, welche ihrerseits auf den physischen Körper einwirken, der wiederum gewisse Auswirkungen auf das ökologische System haben kann, und so weiter und so fort. Aber dies sind noch immer nur ITS, die die inneren Dimensionen der Subjektivität, des Bewusstseins und der erweiterten Bewusstseinszustände usw. außer Acht lassen. Die Systemtheorie behauptet zwar das Ganze zu betrachten. Tatsächlich beschäftigt sie sich aber nur mit einem Teil des Ganzen. Sie befasst sich mit der ITS-Dimension von Objekten – mit Systemen von Objekten.

Dann gibt es Richtungen, welche die Ich-Dimension zur einzig wahren Dimension erklären wollen. Bestimmte Weisheitstraditionen z.B. behaupten, dass nur bestimmte mystische und meditative Zustände, das subjektive Selbst also, die einzige Realität darstellen, und dass alle anderen Dinge und Erscheinungen Illusionen sind.

In jüngster Zeit haben wir den postmodernen Ansatz, der besagt, dass die Kultur, die Wir-Dimension, alle Objekte konstruiert, dass alles eine kulturell-soziale Konstruktion ist und dem Ich oder dem Es daher keinerlei Wirklichkeitscharakter zugesprochen werden kann. Alles ist eine Konstruktion des sozialen Wir. So lautet die Essenz der Postmoderne. Auch sie setzt eine einzige Perspektive absolut.

Wir dagegen versuchen zu sagen: „Wisst ihr was? Ihr habt alle recht! Alle diese Ansätze sind richtig. Aber ihr liegt falsch in dem Moment, wo ihr denkt, dass eurer Ansatz der einzig wahre ist." Wir sagen einfach: „Lasst uns das Ich, das Wir und das Es betrachten und nicht eines auf das andere reduzieren." Genau hier kommen wir aus der Falle des Absolutismus heraus, der ein Stück der Realität zum einzig wahren Stück macht. Das gleiche gilt für die Ebenen oder Zustandsformen des Bewusstseins und auch für die Entwicklungsstufen des Bewusstseins. Die prämoderne Weltsicht ließ nur bestimmte Zustände und Stadien gelten. In der Weltsicht der Moderne war nur wissenschaftliche Rationalität und pragmatische Business-Rationalität erlaubt. Die postmoderne Weltsicht schließlich hat einen bestimmten pluralistischen Ansatz postuliert, und dies ist wiederum das einzige, was sie erlaubt.

So, wir versuchen nun, einen Schritt zurückzutreten und der Tatsache gerecht zu werden, dass wir heute Zugang zu allen Kulturen rund um die Welt haben. Dabei wird wirklich, wirklich, wirklich offensichtlich, dass es im Hinblick auf die heutige Weltsituation völlig inadäquat ist, nur Dein spezielles Stück herzunehmen und dieses zum allein gültigen Stück zu erklären. Dies ist eine sehr überhebliche, beschränkte Sichtweise, und das betrifft auch die Postmoderne, die meint, sie allein liege richtig und alles andere sei ein Irrweg.

Wir sagen: „So funktioniert das nicht. Das macht keinen Sinn. Wenn ja, dann müsst ihr erklären, warum 99 % der Weltbevölkerung nicht einer Meinung mit euch sind. 99 % der Menschheit müssten für krank oder dumm erklärt werden, nur damit eure Richtung die richtige sein kann." Wir finden gerade das eine kranke und dumme Sichtweise. Aber gegenwärtig wird leider noch die ganze Welt von ihr beherrscht. Wir müssen eine Einstellung entwickeln, die großzügig genug ist, um sagen zu können: „Wir sollten alle diese Dinge im Rahmen ihrer eigenen Bedingungen akzeptieren." Anstatt zu fragen, was richtig oder falsch ist, sollten wir fragen: „Welche Sicht erlaubt uns die Erkenntnis, dass alle etwas Wichtiges beizutragen haben?" Das ist eine völlig andere Fragestellung. Dennoch ist das die einzige Frage, die wir uns heute, in einer Welt, in der alle Kulturen zusammen kommen, stellen müssen. Eine solche integrale Sichtweise hinterlässt neue Prägungen in unserem Mind, denn sie zwingt uns dazu, Begrenzungen zu überwinden und uns so weit wie möglich auszudehnen. Und das verwandelt unser ganzes Sein. Es ändert unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein. Wir werden großzügiger, toleranter, liebevoller, mitfühlender und mit der Ausdehnung erhalten wir die Fähigkeit, mehr und mehr zu integrieren.

Das Integral Operating System – eine integrale Methode für jedermann

CK, AD: Genau an diesem Punkt wird das Integrale interessant für jedermann – nicht nur für komplexe Systeme wie Wissenschaft, Wirtschaft, Politik oder Religion, sondern auch für den ganz normalen Menschen und das alltägliche Leben.

Ken: Richtig. Und das versuchen wir mit vereinfachten Erklärungen wie derjenigen, die ich gerade gegeben habe, zu erreichen. Auf diese Weise betrachtet, ist es gar nicht so komplex. Das Integral Institute hat es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, mein Modell sehr stark zu vereinfachen, um es wirklich rüber bringen zu können.

Wenn man das Modell einmal unter folgendem Gesichtspunkt betrachtet, wird es für den Einzelnen noch verständlicher: Die einzelnen Bausteine zum Beispiel, die ich eben beschrieben habe – die Ich-, Wir- und Es-Dimensionen und die Bewusstseinszustände – sind ja etwas, was alle Menschen bereits in sich tragen. Es ist nicht etwas, das ich fabriziert habe und jetzt versuche, in dich reinzutrichtern. Es ist etwas, was man bereits hat, und wir reden nur darüber. Wenn man das mal checkt, wird der Job wesentlich leichter. Wenn wir einfache Wege aufzeigen, die eine gewisse Resonanz in den Menschen erwecken, dann blinkt es sehr, sehr schnell bei ihnen auf. Denn es handelt sich um Teile ihres eigenen Seins, von denen sie nur noch nicht wussten, dass es sie gibt. Auf diese Weise können sie selbst erfülltere und reichere Menschen werden, in ihren Beziehungen, ihrem Beruf, ihrem Leben und so weiter.

Nachdem die theoretische Arbeit einmal getan ist, kommt nun tatsächlich die interessante Frage an die Reihe: Wie können wir dies an den normalen Menschen bringen, den Menschen auf der Strasse – im besten Sinne?

CK, AD: Überall hin, so dass sich wirklich etwas ändert.

Ken: Ja. Bob Richards, der hier sitzt, ist einer der Schlüsselfiguren im Kern des Integral Institute – und er leistet wahrhafte Pionierarbeit, indem er diese komplexen Ideen leicht verständlich macht, und das in sehr kurzer Zeit. Sein Integral Operating System (IOS) ist ein brillantes Beispiel hierfür.

CK, AD: Es ist ja gerade die Besonderheit des Integralen, dass sein Gesicht stets zwei Seiten zugleich zeigt: die eine ist komplex, weil sie der Komplexität gerecht werden muss, die andere dagegen ist extrem einfach.

Ken: So ist es. Vorhin sagtet Ihr, dass man den Teil nicht verstehen kann, bevor man nicht das Ganze kennt. Hierin liegt die Schwierigkeit, die ich habe, wenn ich verstanden werden will. Denn um das Ganze zu verstehen, müssen die Leute zunächst einmal Zeit aufbringen. Sie müssen sich durch zwei oder drei dicke Wälzer wie Eros, Kosmos, Logos durcharbeiten oder zumindest A brief history of everything lesen. Wenn die Leute das aber mal hinter sich gebracht haben, dann wird es furchtbar einfach, wirklich sehr, sehr einfach. Wenn man die Quadranten verinnerlicht, die Ebenen und Zustände verstanden hat, kommt das andere fast automatisch, einfach weil es etwas ist, was jeder bereits in sich trägt. Man lernt Dinge zu gebrauchen, die man bereits hat. Wenn man das einmal drin hat, dann wird man sagen: „Wow, ist das einfach!" Wenn man es einmal begriffen hat, ist es wirklich einfach und spart enorme Zeit und Mühe.

Bob Richards: Einer der Gründe, warum ich es Integral Operating System, IOS genannt habe, ist, weil es wie das Betriebssystem eines Computers funktioniert. Wer einmal die integrale Methode erlernt hat, wird seine gesamten Erfahrungen entlang der Wege, die Ken beschreibt, organisieren. Wer IOS einmal installiert hat, zumindest kognitiv, dessen gesamte Erfahrung wird strukturierter und klarer. Die Wirklichkeit kann besser organisiert werden, Komplexität lässt sich leichter in den Griff kriegen; man kann unterscheiden zwischen Ich-, Wir- und Es-Erfahrungen, zwischen Zuständen des Bewusstseins und Entwicklungsstadien des Bewusstseins usw. Dieses Operating System kann im Business Anwendung finden, in der Medizin, der Politik – überall.

CK: Und nach einer gewissen Zeit braucht man nicht einmal mehr Unterscheidungen zu treffen. Dann beginnen wir, nur noch auf das zu hören, was wir die „innere Stimme" nennen. Hierin liegt ein riesiger Fortschritt. Wer das Integrale verinnerlicht hat – und deine Landkarte ist wirklich die beste, Ken –, kommt irgendwann automatisch an den Punkt, wo er nur noch auf sich selbst zu hören braucht, wo sich selbst die Landkarte erübrigt.

Ken: Genau! Das ist es! Ich freue mich wirklich, dass Du das sagst. Immer wieder behaupten die Leute: „Wilber, dieser Besserwisser, will mir seine Art zu denken aufzwingen." Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Wenn ich betone, dass jede Sprache die Perspektive einer ersten, zweiten und dritten Person hat, meine ich damit, dass, wenn du in deinem Leben mit einer Situation konfrontiert wirst, du zumindest wissen willst: „Wie fühle ich mich in dieser Situation? (Ich-Ebene)". Du betrachtest auch die objektiven Tatsachen der Situation, also das Es: „Was geht objektiv gesehen tatsächlich vor sich? Was passiert hier?" Und du wirst die Wir-Dimension im Auge haben, d.h. die Menschen, die involviert sind. Auf diese Weise kannst du ein Einverständnis darüber entwickeln, wohin die Situation führen soll. Wenn ich also aufzeige, dass es eine Ich-, eine Wir- und eine Es-Dimension gibt, dann will ich sagen: „Was auch immer du tust, stelle sicher, dass du alle diese Ebenen abdeckst. Denn sie sind da." Es ist nicht etwas, das ich aufzwinge. Es sind vielmehr Bereiche, die in jedem von uns vorhanden sind. Wir alle durchlaufen abwechselnd den Wachzustand, den Traumzustand und den formlosen Zustand. Wenn wir einen von ihnen nicht berücksichtigen, sind wir unvollständig. Man checkt also nur sich selbst, technisch gesehen: alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien – all that stuff. Wenn man das integrale Modell anwendet, ist es tatsächlich sehr einfach. Es stellt sicher, dass die eigene innere Stimme alle diese Kriterien überprüft. Es geht nicht um mich. Ich bin an dieser Stelle nicht mehr im Spiel.

Bob Richards: Ken, warum ist es selbst für Menschen, die den nicht-dualen Zustand erreicht haben, wichtig, die integrale Realisation mit einzubeziehen?

Ken: Um dieses Thema gibt es immer wieder heiße Diskussionen. Jede spirituelle Tradition hat ein Verständnis von Erleuchtung oder kosmischem Bewusstsein oder Einheit oder satori, unio mystica, wie immer man diesen Zustand nennen mag. Und nun sagen die Leute: „Was du sagst, ist ja alles schön und gut, Ken. Aber ich brauche über diesen ganzen Stoff nicht mehr nachzudenken. Ich habe satori erreicht." Wir leben nun aber mal in dieser Welt und in eben dieser Welt bringen wir unsere Realisation zum Ausdruck. Selbst wenn du die Einheit oder nirvana – der buddhistische Terminus für formlose Einheit – realisiert hast, gibt es da dennoch die Welt der Form, in der du deine Erleuchtung ausdrückst. Du kannst eine perfekte Erleuchtung erlebt haben; aber wenn du in der Welt der Form zerbrochen, getrennt und instabil bist, wird deine Erleuchtung in Spaltung, Trennung und Instabilität zum Ausdruck kommen. In diesem Fall ist die Erfahrung aber nutzlos, sie wird der wirklichen Welt nichts nützen. Wenn du ein bodhisatva-Gelübde ablegst – das Gelübde, Erleuchtung zu erreichen, um der Menschheit helfen zu können –, dann muss ein Teil des Gelübdes sein, eine möglichst klare Landkarte des menschlichen Wesens zu besitzen. Or you're gonna screw it up! Wenn du also dein bodhisatva-Gelübde wirklich ernst nimmst, musst du ein integraler Denker werden, oder du wirst deine Aufgabe verfehlen. Es ist dasselbe, wenn wir sagen: "Wenn du eine schlechte Karte der Alpen besitzt, wirst Du eine Bruchlandung erleben." Egal, ob jemand ein guter Arzt werden will, ein guter Dalai Lama oder ein guter Psychotherapeut, ein guter Automechaniker oder ein guter Hausverwalter, immer muss er sicher gehen, ob er alle Teile seines Selbst erfasst hat. Das Integral Operating System, IOS, ist eine Methode, die, einmal verstanden, dein eigenes System dazu bringt, alle diese Teile zu überprüfen und sicherstellt, dass du nichts auslässt. Und dies ist wirklich die eigene innere Stimme, wie Du sagst, es ist deine Stimme. Es ist nicht meine Stimme, nicht seine, es ist deine ureigene Stimme, und sie führt dich zu einem runderen Ausdruck dessen, was du bist. Von ihr geführt, wirst du nichts Wichtiges mehr übersehen oder unterlassen. In diesem Sinne ist das alles sehr nützlich.

CK: Nicht nur nützlich, sondern notwendig! Die innere Stimme muss trainiert werden, sonst können wir nicht unterscheiden, ob es sich wirklich um die innere Stimme handelt, oder nur um eine der vielen anderen Stimmen, die sich ständig in uns melden.

Ken: Ja, genau. Es verleiht uns im wahrsten Sinne des Wortes das, was die Buddhisten „unterscheidende Weisheit" nennen, das, was uns hilft, das Ursprüngliche, Tiefe und Grundsätzliche vom Oberflächlichen, Hohlen und Nichtssagenden zu unterschieden. Dies ist sehr wichtig. Es ist nämlich genau die Eigenschaft, durch die man sich des höchsten Zustandes gewahr wird, und weit mehr noch: durch die man gezeigt bekommt, wie man diesen Bewusstseinszustand im Alltagsleben, in der richtigen Welt zum Ausdruck bringen kann.

Der glückliche Umstand an der Begegnung der Kulturen heute ist, dass wir uns von Halbwahrheiten befreien können, indem wir uns einfach anschauen, was uns alle diese Kulturen zu erzählen haben. In einer Million Jahren werden wir eine Betrachtungsweise entwickeln, die nicht mehr cross-cultural ist, sondern cross-galactical.

(lacht) In diesem zukünftigen integralen Stadium wird es heißen: „Oh, die Erdbewohner glauben an diesen Blödsinn, die Venusier glauben an das und die Bewohner von Alpha-Centaury bilden sich jenes ein" – genauso, wie wir heute sagen: „Die Tibeter glauben an das und die Deutschen an jenes". Eine Million Jahre später wird man noch immer den Zustand der Einheit erleben wie heute. Aber die Form wird sich verändern. Und die Form heute ist integral, sie ist cross-cultural , und wer die Kulturen nicht integrieren kann, der liegt einfach daneben; der ist begrenzt und unvollständig und verletzt seine eigene Seele. Die Seele leidet Höllenqualen unter dieser Trennung und Zersplitterung. Deshalb sehnen sich die Menschen danach, sich in die Größe und Weite auszudehnen, die sie wirklich sind.

Die gegenwärtige Weltsituation aus der Sicht des Stadien-Modells

CK, AD: Das ist genau die Situation, die wir heute erleben und es scheint, dass sie sich von Tag zu Tag mehr zuspitzt. Auf der einen Seite dieses Abgeschnittensein, die Trennung und Begrenztheit, auf der anderen Seite die starke Sehnsucht nach Ganzheit, Wachstum und Vollkommenheit. Was, glaubst Du, wird geschehen?

Ken: Die gegenwärtige Weltsituation sieht nicht gut aus, das muss man zugeben. Da stehen einige äußerst schwierige Themen an.

Bis zu diesem Punkt unseres Gesprächs haben wir von Bewusstseinszuständen gesprochen. Jetzt sollten wir die anderen Modelle ins Spiel bringen, um diese Frage genauer zu beleuchten. Diese Modelle ermöglichen uns ein noch feineres Verständnis des menschlichen Bewusstseins. Eines dieser Modelle ist das Stadien-Modell. In der bisherigen Forschung gibt es mehr als hundert solcher psychologischer Entwicklungs-Modelle.

Die gegenwärtige Szenerie auf unserem Planeten legt die Vermutung nahe, dass es verschiedene Blöcke auf der Welt gibt, die auf jeweils verschiedenen Bewusstseinsebenen operieren. Das soll kein Werturteil sein. Es ist die einfache Feststellung, dass es Unterschiede gibt, die beachtet werden müssen. Alle diese Entwicklungsmodelle, die von amerikanischen, japanischen und europäischen Psychologen entworfen wurden, haben ihren Ursprung in der Tradition der deutschen Idealisten und wurzeln in der Erkenntnis, dass Bewusstsein, wie alles andere auf der Welt, wächst und sich entwickelt – wie eine Pflanze oder ein Baum. Es wächst in bestimmten Stadien und erreicht schließlich die Reife. Das einfachste Stufen-Modell stammt von Jean Gebser. Er bezeichnete die verschiedenen Stadien als archaisch, magisch, mythisch, rational und integral. Die meisten Menschen verstehen sofort, was damit gemeint ist. Die Bezeichnungen erklären sich in gewissem Sinne selbst.

Was nun die unglückliche Situation anbetrifft, die wir zur Zeit erleben: es gibt große Blöcke, die magisch sind, große Blöcke, die mythisch sind und große Blöcke, die rational sind. Wenn wir die Skala auf Amerika anwenden, werden wir ähnliche Umstände wie in Europa feststellen: weniger als 2 % der Bevölkerung befinden sich auf einem Level, den man als integrales Entwicklungsstadium bezeichnen könnte. Die meisten sind magisch, mythisch oder rational. Unglücklicherweise erleben wir auf der gegenwärtigen Weltszene einige sehr magische, tribalistische Organisationen der terroristischen Sorte, die sich in Konflikt mit fundamentalistischen, mythischen Glaubensstrukturen befinden, egal ob das nun christliche oder arabische oder Fundamentalisten anderer Glaubensrichtungen sind. Darüber hinaus haben wir die rationalen Industrienationen, von denen der Kapitalismus wieder eine eigene Kategorie darstellt. Alle drei Stadien haben ihre spezifischen downsides.

Die downsides des egoisch-rationalen Stadiums, in dem sich die westlichen Industrienationen befinden, sind Ausbeutung der Dritten Welt, exzessive industrielle Rationalisierung, ökologische Probleme und das, was wir McCulture nennen: die Invasion von McDonald in alle Teile des Globus als Symbol des amerikanischen Lebensstils. Obwohl ihre Pommes wirklich unschlagbar sind (lacht). Ebenso kennen wir die downsides des Mythischen mit seinen alleinseligmachenden Ideologien; diese kulminierten in der spanischen Inquisition, in fundamentalistischen Glaubensstrukturen, Homophobie, patriarchalem Machtmissbrauch usw. Und auch die downside des magischen Stammesdenkens ist offensichtlich: es ist terroristisch, es ist tribalistisch, es ist nicht in der Lage, dauerhafte Nationen mit bindenden Einheiten zu bilden.

Die eigentliche Schwierigkeit dabei ist folgende. Bevor man nicht selbst in ein integrales Entwicklungsstadium gelangt, kann man das Spektrum der verschiedenen Stufen nicht erkennen. Wenn man sich im mythischen Stadium befindet, glaubt man, dass die eigene Sicht die einzig wahre ist. Das ist wieder der Absolutismus, von dem wir gesprochen haben. Wer dagegen industriell rational ist, ist davon überzeugt, dass er allein Freiheit und Wahrheit kennt, dass er alle Menschen fair und gleichberechtigt behandelt, dass nur er richtig und alle anderen falsch liegen. Auf diesen drei Ebenen gibt es keine Möglichkeit, Probleme zu lösen. Leider regieren diese Ebenen unsere gegenwärtige Welt und daher gibt es keinen Weg, die Probleme der Welt zu lösen. Das meine ich ernst. Im Augenblick gibt es keinen Weg.

Bis zu einem gewissen Grad hoffen wir natürlich auf eine Welt der Bewusstheit, deren innere Schwerkraft zumindest integral ist, welche die Menschheit zu einem größeren Verständnis, zu mehr Toleranz führen kann. Diese würde eine Kultur hervorbringen – nein, nicht einmal das, die Kultur selbst würde einen Zustand hervorbringen, der ein Nebeneinander aller Stufen erlaubt, aber nicht erlaubt, dass eine über die andere dominiert.

Die egoisch-rationale Konstitution der Industrienationen bemüht sich zwar , ihren Bürgern bestimmte Rechte und Freiheiten zu garantieren; das ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Aber sie ist noch lange nicht integral.

Unser wundervoller Mr. Bush ist nicht rational, er ist mythisch. Er ist ein Fundamentalist, was angesichts der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten schon eine Art industrieller Rationalität erreicht hatten, wirklich verblüffend ist. Amerika erlaubte uns, die Gewässer zu verschmutzen und überall McDonalds hinzusetzen, darin ist Amerika wirklich gut. Bush aber ist ein fundamentalistischer Bible-fucking good old boy, der sich über die Austreibung des Bösen und ähnlichen Schrott auslässt. Oh, er ist sehr mythisch. Die meisten europäischen Politiker sind entrüstet über ihn, sie sind beängstigt. Es ist unglaublich!

Aber selbst wenn sich jemand auf einem annehmbaren Level befindet – Schmidt z.B. oder wen immer wir auswählen; jeder hat seine Favoriten; es gibt tatsächlich einige gute Führungspersönlichkeiten –, gibt es da noch immer diese großen Blöcke, die ihr Spiel auf einem magisch-tribalistischen Level, einem mythisch-fundamentalistischen-Glaubens-Level und einem rational-industriellen Level spielen. Alle hängen sie sich gegenseitig an der Kehle und es gibt keine Möglichkeit, diesen Konflikt zu lösen – außer mit den spezifischen Waffen, die zu diesen Ebenen gehören. Gegenwärtig haben sich alle gegenseitig den Krieg erklärt, und das bedeutet: wenn einer gewinnt, wird er sich die anderen vom Hals schaffen. Daran wird sich erst dann etwas ändern, wenn wir einen integralen Level erreichen mit einer Art – nicht Weltregierung – aber einer Art Weltföderation, die ein tiefes Verständnis für Völker, Kulturen und Nationen hat. Diese dürfen dann auf egal welchem Level sein, aber sie dürfen nicht über die anderen dominieren, nicht aufgrund ihres spezifischen Entwicklungsstadiums und Wertesystems. Auf der Basis einer solchen Weltföderation können wir konstruktive Lösungen erwarten. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir erst dorthin gelangen werden, nachdem wir noch einige sehr schlimme Kulturkriege zwischen diesen Blocks erlebt haben. Jeder davon hat seine eigenen fürchterlichen Mittel der Kriegsführung. Das grauenvollste Zerstörungspotential liegt jedoch in den Händen der rationalen Industrienationen. Nicht nur, dass sie Atomwaffen und das vernichtendste Waffenarsenal besitzen, weit schlimmer ist, dass sie die Wirtschaft beherrschen. Sie kontrollieren die ökonomische Marktwirtschaft, sie besitzen das gesamte Geld. Wen wundert es da noch, dass sich irgendein magisch-tribalistischer Terrorist eine Bombe umschnallt und in das Word-Trade-Center reinspaziert. Die ganze gegenwärtige Situation präsentiert ein sehr, sehr schwieriges Szenario. Deshalb sehe ich keine Möglichkeit zum Aufatmen, keine globale Transformation, keine Zeitenwende. Diese Vorstellung ist zwar wundervoll und idealistisch, meiner Meinung nach wird das jedoch noch eine ganze Weile dauern.

Im Augenblick können wir nichts tun, außer immer mehr integrale Keimzellen ins Leben zu rufen, die dann wachsen und sich ausdehnen. Je mehr Menschen ein integrales Verständnis entwickeln, desto größer sind die Chancen. Dann könnte es vielleicht – wenn auch zu einem langsamen, so doch zu einem gewaltlosen Übergang kommen. Ich möchte diese Möglichkeit nicht ausschließen. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Aber es wird nicht morgen Nachmittag passieren. Was wir gerne sehen würden, ist eine wachsende Anzahl von Menschen mit einem integralen Bewusstsein, Menschen, die Einfluss haben. Nicht weil die Integralen den anderen ihre Sicht überstülpen wollen, sondern weil sie sagen: „Ihr müsst auf alle Völker schauen, bevor ihr eine Entscheidung trefft." Dies ist ein umfassender, alles einschließender Ansatz und nicht etwas, das behauptet: „Meine industriellen Werte sind richtig und deine Stammeswerte sind das Werk des Teufels." Aber die Weltszene ist äußerst unbefriedigend, und ich glaube, es wird auf lange Zeit gesehen noch schwieriger werden. Ich sehe nicht unbedingt die Sintflut oder den Weltuntergang, aber es wird tough werden.

CK: Auf der anderen Seite kann gerade dieser enorme Druck den Übergang beschleunigen. Die gegenwärtigen Umstände regen den Menschen zum Nachdenken an, rütteln ihn wach, weil viele der bisherigen Systeme bereits nicht mehr funktionieren oder zusammenzubrechen drohen. Eine große Anzahl Menschen ist offen für das Neue und öffnet sich einer der Religion übergeordneten Spiritualität. Dieser Wandel wird nicht von politischen, ökonomischen oder religiösen Gruppen oder blocks eingeleitet, das ist wahr. Die blockieren den Wandel nur. Aber er liegt in der Luft, und überall auf der Welt ist er zu spüren. Egal wohin ich auf meinen Reisen komme, beobachte ich an der Basis – beim einzelnen Menschen – die Sehnsucht und den Willen nach dem Neuen, die Aufbruchstimmung. Und diese Sehnsucht geht weit über politische und wirtschaftliche Neuerungen hinaus. Es ist eine Sehnsucht nach der tiefsten Wahrheit, die wir alle in uns spüren, die Sehnsucht nach Rückverbindung mit unserem alles integrierenden Wesenskern. Diese Sehnsucht treibt uns gewissermaßen genau dorthin: in das integrale Bewusstsein. Und zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte haben wir die Chance, zu erkennen, dass das wahrhaft Integrale nicht von außen kommt, durch Kultur und Institutionen, sondern durch jenen inneren Bewusstseinszustand geboren wird, von dem letztlich jeder Mensch eine Ahnung hat. Wenn es gelingt, die Menschen genau an diesem Punkt zu erwischen, werden sie springen. Jeder wird springen, wenn er spürt, dass es auf der anderen Seite eine Antwort auf seine Sehnsucht gibt.

Ken: Ich würde sagen: Ja und Nein. Mit einem Teil dessen, was du sagst, bin ich einer Meinung, mit dem anderen Teil etwas weniger. Wir müssen zwischen Bewusstseinszuständen und Bewusstseinsstadien unterscheiden. Die meisten natürlichen Zustände, einschließlich einer Art non-dualem, integrativen Zustand sind den Menschen zugänglich, ja. Wenn aus ihnen jedoch eine dauerhafte Errungenschaft werden soll, müssen sie zu einem Stadium werden, zu einem tatsächlichen, grundlegenden Entwicklungsstadium, das man verkörpert. Betrachten wir die empirische Forschung, die sich damit auseinandersetzt, auf welcher Entwicklungsstufe die Menschheit steht, sieht das jedoch weniger ermutigend aus. Der Stufenteil ist weniger ermutigend. Der Zustandsteil, den du angesprochen hast, ist richtig: die Menschen haben Zugang zu diesem Zustand und sie können ihn anzapfen. Auf jeder Entwicklungsstufe kann man einen Durchbruch zur Einheitserfahrung alles Seienden, zu dieser Art integralen Bewusstseins bekommen.

Aber dass dies zu einer dauerhaften Errungenschaft werden kann und es nicht nur ein einmaliges Gipfelerlebnis bleibt, dazu muss eine Stufe daraus werden. Man kann dies beschleunigen mit Techniken wie Meditation usw., aber es wird seine Zeit dauern.

Jemand, der sich auf der mythischen oder rationalen Stufe befindet, braucht wahrscheinlich mindestens 5 bis 10 Jahre. Wenn er sich einer tiefgreifenden Psychotherapie unterzieht, und meditiert – dann ist es ein Prozess von fünf oder zehn Jahren bis zur tatsächlichen Transformation.

CK: Das vielleicht. Dennoch sehe ich diesen Punkt etwas anders.

Ken: Das ist ok. Ich muss der Forschung und den Tatsachen folgen, und das tue ich hier. Wenn wir nun also das Stadien-Konzept verfolgen, stellen wir fest, dass sich etwa 2 % auf integral und etwa 25 % der Bevölkerung in Amerika und Europa auf der postmodernen Stufe befinden. Auf der egoisch-rationalen Stufe befinden sich ungefähr 30 % und circa 40 % sind mythisch-fundamentalistisch. Das Integral Institute konzentriert sich nun auf jene 20% der westlichen Kulturen, die fähig sind, direkt auf die integrale Stufe überzuwechseln. Das ist keine überwältigend große Zahl, aber sie ist dennoch bedeutend, weil jene 20 - 25 % auf der postmodernen Stufe in der Hauptsache Babyboomer (Erklärung geht aus der nächsten Frage hervor) sind – und das schon seit 30 Jahren. Die sind also bereit, ins Integrale überzugehen. Und das könnte theoretisch wirklich in einem Jahr geschehen, ich meine tatsächlich morgen Nachmittag. Die Frage lautet daher: Welche Faktoren können diesen Übergang beschleunigen? Es wird nicht so aussehen, dass jedermann in der gesamten Kultur plötzlich integral wird. Die Tatsachen sprechen einfach nicht dafür. Aber 20 % der Bevölkerung! Selbst wenn nur die Hälfte davon sich zum Integralen hinbewegt, steigt der Anteil zumindest von 2 % auf 10 oder 15 % an. Eine solche Zahl hat bereits Substanz. Nehmen wir zum Vergleich die Revolution der 60er Jahre, die Mai 68 in Paris ihren Anfang nahm: die Umwälzungen der 60er Jahre wurden von 20 % der Bevölkerung herbeigeführt.

Auch damals war es nicht so, dass jeder ein radikaler 68er war. Da gab es noch immer die Fundamentalisten – die wurden nicht postmodern. Es gab noch immer die modernistischen Szientisten – die wurden nicht postmodern. 20 % der Bevölkerung wurde postmodern und das führte zum Anwachsen der Zivilrechte, des Feminismus, der ökologischen Bewegungen usw. Diese 20 % waren also sehr einflussreich. Was nun meiner Meinung nach in der westlichen Kultur geschehen wird – die zweite und dritte Welt sind noch magisch-mythish – ist, dass sich in den nächsten 10 bis 20 Jahren die 2 %, die gegenwärtig integral sind, sich auf 10 - 15 % ausdehnen werden. Auch wenn das nicht gewaltig erscheint – als eine permanente Errungenschaft wird diese Zahl äußerst machtvoll und einflussreich sein, schon allein deshalb, weil die integrale Stufe eine sehr effektive, eine sehr effiziente Stufe ist. Gibt man Menschen auf der integralen Stufe eine Aufgabe, dann werden sie diese 10mal schneller und effizienter ausführen als Menschen auf der postmodernen Stufe. Sie sehen einfach klarer. Schon mit 5 oder 10 % der Bevölkerung auf integral wird es meines Erachtens zu einem sweeping change kommen. Sitzen diese Leute dann noch in führenden Positionen, in der Regierung, der Politik, im Erziehungswesen, beginnen die Universitäten damit, integral zu werden... – oh, das wäre sehr, sehr einflussreich. Realistisch betrachtet ist das aber das höchste, was wir erwarten können. Wenn 90 % dort ankommen, bin ich nur glücklich darüber. Aber selbst diese realistischen 10 - 20 % sind sehr, sehr ermutigend.

Was mir am Stadienmodell gefällt: Diese Stadien haben ihr Pendant in der natürlichen Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen. Das Kind durchlebt die Stufen des Magischen und des Mythischen und entwickelt sich schließlich zum Rationalen hin. Es sind also natürliche Stufen, und auch der Ablauf der Entwicklung ist ein natürlicher Ablauf. Überall auf der Welt werden in jedem Augenblick Kinder geboren, und sie alle durchlaufen das magische und mythische Stadium, selbst wenn sie in einer rationalen Kultur geboren werden. Ebenso trägt das Stadienmodell der Tatsache Rechnung, dass es immer Anhänger fundamentalistischer Religionen geben wird. Immer. Weil manche Menschen einfach dort stehen bleiben. Und sie werden wirklich glauben, dass Jesus aus einer Jungfrau geboren wurde, dass Laotse 900 Jahre alt war, als er gestorben ist usw.

Wenn wir sagen, dass das Integrale ein Evolutionsstadium ist, bedeutet das, dass sich im Laufe der Evolution die integrale Stufe von selbst einstellen wird. Es ist nicht etwas, was wir lernen müssen. Es ist ein Stadium der eigenen Entwicklung.

Wir werden also eine wachsende Anzahl integraler Denker erleben, ob diese meine Bücher gelesen haben oder nicht. Einfach deshalb, weil dies ein Abschnitt ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte ist und sie irgendwann von selbst eine integrale Sichtweise entwickeln. Das wiederum ist sehr ermutigend. Es ist nicht davon abhängig, dass die Leute Wilber oder Gebser oder Aurobindo gelesen haben. Dieser Teil ist wirklich sehr ermutigend.

Fühlst Du Dich mit dieser Art Analyse wohler?

CK (lachend): Ja, ja, damit fühle ich mich wohler. Jetzt haben wir uns ja wieder getroffen.

Boomeritis

Bob Richards: Dein neues Buch Boomeritis kommt diesen Sommer heraus.

Ken: Nächste Woche schon.

BR: Wann wird es nach Deutschland kommen?

Ken: Ich bin sicher, dass die Rechte schon verkauft sind. Im allgemeinen wird es dann sechs Monate später veröffentlicht. Mit der Übersetzung wurde bereits begonnen, als ich das Manuskript ablieferte.

BR: Wie würdest Du das Anliegen von Boomeritis beschreiben – innerhalb des Kontextes, über den wir gerade sprachen?

Ken: Ja. Wir sprachen über diese allgemeinen Stadien des Bewusstseins und der Evolution, und wir sprachen über die Entwicklung vom Magischen, zum Mythischen, zum Rationalen und zum Integralen. Bob hat Recht. Boomeritis lässt sich unmittelbar in diesen Kontext einfügen. Zwischen der rationalen und integralen Stufe befindet sich ein pluralistisches Stadium, die postmoderne Stufe. Auf dieser postmodernen Stufe befinden sich ungefähr 20 % der Bevölkerung Amerikas und Europas. Jedes Stadium hat, wie wir feststellten, seine spezifischen Vor- und Nachteile. Die positiven Aspekte, die wir dem pluralistischen, postmodernen Stadium zu verdanken haben, sind zivile Rechte, Feminismus, alle Arten von Gesundheitsreformen, Umweltangelegenheiten usw. Die downside drückt sich in einer extremen deconstruction aus: alles ist relativ, nichts ist richtig; nichts ist besser als irgendetwas anderes; man darf keine Vorstellung von irgendeiner Form absoluter Wahrheit haben. Das führte im akademischen Bereich zu einer Lähmung des Willens und des Denkens. Diese Sichtweise kann zum Beispiel nicht die Frage beantworten, ob und warum es verwerflich sein könnte, das World-Trade-Center in die Luft zu jagen. Die Postmodernen sind also sehr zurückhaltend, was das Äußern von Werturteilen betrifft. Das aber lähmt den Handlungswillen. Dieses Phänomen nenne ich „boomeritis". Es nahm seinen Anfang mit der Babyboom-Generation (In Deutschland bezeichnen wir diese Generation im allgemeinen als „die 68er").

Boomeritis ist ein Roman, der sich mit dieser Problematik auseinandersetzt. Es ist etwas, was ich noch nie zuvor gemacht habe. Mit Sicherheit wird es einige Kontroversen hervorrufen und meinen Ruf in einigen Ländern der Erde ruinieren (lacht). Aber eigentlich macht es mir Spaß, umstritten zu sein und dann zu sehen, was passiert.

Der Roman ist aus der Sicht eines 20jährigen jungen Mannes geschrieben, der künstliche Intelligenz erforscht. Man muss es gelesen haben, um sehen zu können, wie schräg und krank es ist. Aber es macht Spaß. Warten wir also ab, was geschieht. Generell ist es für Leute geschrieben, die Widerstände gegen das integrale Bewusstsein haben. Darum geht es in diesem Buch. Denn diese Generation hat wirklich jede Vorwärtsbewegung zum Integralen hin blockiert. Bei denen gibt es keine universellen Wahrheiten zu integrieren. Die haben nur ihre eingefleischten Überzeugungen über Relativität. Das allein ist deren absolute Wahrheit. Boomeritis beleuchtet also deren eigene Widersprüchlichkeit. Und mein zugrundeliegendes Anliegen dabei ist, mit genau diesen 20 % zu arbeiten, die eigentlich bereit wären, ins Integrale zu gehen. Das ist meine Absicht. Es ist ein Roman, der an diese Gruppe gerichtet ist.

CK, AD: Wenn diese 20 % wirklich ins Neue springen, würde das bedeuten, dass sich unser Lebensstil ändern wird. Weltweit.

Ken: Absolut.

CK, AD: Und wenn sie das Integrale hineintragen in Bereiche wie ...

Ken: Huge.

CK, AD: Das wäre doch wirklich gewaltig. Schon mit nur 10 % würde sich unser Leben vollständig ändern.

Ken: Ja. Das könnte gewaltig werden. Und ich glaube, es wird passieren, und zwar aus zweierlei Gründen. Einer davon ist, dass die Babyboomer selbst, und zwar sowohl in Amerika als auch in Europa, gerade die zweite Lebenshälfte erreichen. Psychologische Transformation geschieht in dieser Phase weit häufiger. Es ist die Phase, in der sie zum ersten Mal mit dem Phänomen der Sterblichkeit konfrontiert werden. Jemand, den du gekannt und geliebt hast, ist gestorben, und alle diese schwierigen Fragen über das Leben werden aufgeworfen. Transformation rückt in den Bereich des Möglichen. Auf der anderen Seite kommen die neuen Kinder und Jugendlichen daher. They hit the ground running. Viele von ihnen kommen schon mit einem integralen Bewusstsein zur Welt und sie antworten auf den post-modernistischen Senf ihrer Eltern „du kannst kein Statement über die Wahrheit abgeben..." mit einem „Fuck you, das ist ja lächerlich". Die haben den Sachverhalt schnell durchschaut. Und ich liebe das. Im Integral Institute verbringe ich die meiste Zeit mit den Jugendlichen. Die haben es geschnallt, sie haben es einfach intuitiv erfasst. Die Boomer dagegen können nicht aufhören mit ihren ewigen Diskussionen. Stunden um Stunden verbringen sie damit, ohne auf den Punkt zu kommen. Die denken von mir, ich sei faschistisch, autoritär und schrecklich. Aber die Kinder ... they hit the ground running. Ja, ich glaube, wir können diese 2 % wirklich auf 10 % anheben. Und das wird alles ändern. Es wird wirklich alles ändern. Einfach weil die neuen Lösungen so viel passender sind, viel effizienter, gewaltlos. Ein Teil unserer Aufgaben im Integral Institute beinhaltet daher, mit Menschen aus dem Erziehungswesen, aus der Politik, der Wirtschaft usw. zu arbeiten. Wir sollten diese Ideen in praktische Wege einbetten. Dann wird es Resultate geben. Und dann werden auch die Ideen ernst genommen werden. Wenn da einfach nur ein Philosoph daherkommt, dann heißt es bloß: „Oh, ja..., aber?"

CK, AD: Also gibt es viel zu tun.

Ken: Ja. Genau.

PAUSE

Der Mensch Ken Wilber

CK, AD: Wo machen wir jetzt weiter, Ken?

Es gibt Tausende von Fragen. Nicht dass du in Deinen Büchern irgendwelche Fragen offen ließest. Du wirfst Fragen auf, präsentiert aber auch allumfassende Antworten. Aber dann, einmal gesät, beginnen die neuen Gedanken, im Innersten zu brennen, und man möchte mehr und mehr darüber wissen. Man möchte das Neue in jede Ecke seines Lebens bringen.

BR: Diese europäischen Mädels sind doch wirklich süß, Ken, oder?! Eine Amerikanerin würde sich nie so ausdrücken.

CK, AD: Warum nicht?

BR: Amerikanische Mädchen würden fragen: „Wann kaufst du mir dieses Auto? Wann kriege ich endlich das neue Haus?" Sie würden nicht sagen. "Gib mir mehr von dieser tollen Philosophie."

(schallendes Lachen)

CK, AD (gespielt ernsthaft): Also, lasst uns fortfahren. Erzähl' jetzt doch mal ein wenig über dich selbst, Ken. Wie kam es zu deinem geistigen Durchbruch. Es war doch ein Durchbruch, oder?

Ken (scherzend): Nun, ich kam von einem anderen Planeten daher.

CK, AD: Was du nicht sagst!

Ken: Meine gesamte frühere Ausbildung war wissenschaftlich. Ich studierte Objekte, Objekte, Objekte, Objekte. ITS, ITS und ITS. Zunächst ging ich zur medical school, dann studierte ich Chemie. Aber keine der Fragen, die mich wirklich bewegten, konnte dadurch beantwortet werden. Alles drehte sich um Objekte. Es gab weder eine Ich- noch eine Wir-Dimension. Ich dagegen wollte alles über innere Bewusstseinszustände, über die wirkliche Bedeutung des Lebens, über wirkliche Werte wissen. So zog es mich zu den östlichen Weisheitslehren hin. Eine intensive Suche begann, bei der ich versuchte, alle diese Wahrheiten miteinander zu verbinden. Ich war überzeugt, dass sie alle etwas zu sagen hatten. Mein Weg begann mit derselben Frage, über die wir vorhin sprachen, nämlich nicht, was richtig oder falsch ist, sondern wie alles richtig sein kann. Es musste einen Weg geben, um darzustellen, dass wirklich alle Richtungen etwas Bedeutsames beizutragen haben. Das ist natürlich eine schwierige Fragestellung. Es ist in der Tat eine sehr schwierige Fragestellung. Aber ich hatte Glück. Es war die erste Frage, die ich mir stellte. Mit 23 schrieb ich mein erstes Buch Das Spektrum des Bewusstseins. Es beinhaltet die Antwort auf die Frage: „Wie kann alles richtig sein?"

CK, AD: Da hast du wirklich früh angefangen.

Ken: Mit 23? Ja, das ist ziemlich früh - in Erdjahren gerechnet. (Gelächter)

CK: Ich glaube, du kommst wirklich nicht von diesem Planeten.

Ken: 23 ist früh, ja.

CK, AD: Du hast eine sehr besondere Art von Intelligenz. Wie ein... Maschinengewehr.

Ken (scherzhaft empört): Das ist eine sehr amerikanische Metapher!

CK, AD: Ist es?

Ken: Ja, wir Amerikaner sind doch sehr machine-gun. Tatatatatatatata...

CK, AD (neckend): Wir zumindest empfinden dich so. Du bringst die ganze Umgebung zum Beben.

Ken: Ist das nervig?

CK: Nicht im geringsten. Es ist höchst inspirierend.

(Inzwischen ist die Stimmung ziemlich ausgelassen).

BR: Er ist der Rambo der Philosophie.

Ken: Jetzt ist´s aber genug!

BR: Er ist der Terminator.

Ken: Oh, nein, nein, nein. Nehmt das bloß nicht auf. Nein, nein nein... (wehrt sich laut lachend)

BR: Er ist die Mutter Teresa der...

CK, AD: Einigen wir uns doch auf „Terminator der Philosophie"

Ken (spielt den Beleidigten): Das ist kein gutes Image für einen Integrator. Wir integrieren hier doch. Wir terminieren nicht.

CK, AD: Glaubst Du, dass Du ein besseres Image verdient hast?

Ken: Auf jeden Fall ein besseres als „Terminator".

(Nur mit Mühe kommen wir zum Ernst der Sache zurück).

Es gibt tatsächlich verschiedene Geschwindigkeiten in meinem Schaffen. Wenn ich in einem meditativen Zustand bin, ist es ganz anders. Die Gedanken sind sehr langsam und der Raum des Denkens ist sehr weit ausgedehnt. Aber wenn ich schreibe oder wie jetzt mit Euch arbeite, bringe ich tatsächlich eine enorme Leidenschaft und eine enorme Intensität hinein. Um eine solche Pionierarbeit zu leisten, braucht es diese Art der Energie. Ohne diese Intensität kannst du das nicht schaffen. Für alle Pioniere ist diese Leidenschaft von höchster Bedeutung. Wenn du dann wieder heruntergeladen und gesammelt bist, ist das natürlich schön. Ich arbeite nicht 24 Stunden täglich in dieser Geschwindigkeit. But when I do this kind of stuff I do, it is very, very intense.

CK: Es ist eine Art kreativer Ekstase, nicht wahr? Ich kenne das auch.

Ken: Ja, anders geht es einfach nicht. Aber wenn du dann in die Zen-Meditation gehst, ist das total anders. Die Energie ist völlig anders; du hast vielleicht zwei oder drei Gedanken pro Stunde. Aber jetzt...

BR: Ein Kerngedanke des Integralen ist ja gerade, beides im Leben zu vereinen und das ganze Spektrum der Energien abzudecken.

CK, AD: Und das ist das Faszinierende daran. Wenn die Menschen einmal begreifen, wie faszinierend diese Art zu leben ist, dann werden sie sich dem Neuen bereitwillig öffnen. Wir sollten ihnen vielleicht mehr davon zeigen.

Ken: Ja. Aber eine der Schwierigkeiten, die ich habe... Schaut, wenn Ihr das, was wir hier reden und wie wir miteinander sprechen, transkribiert und die Leute lesen es, lesen es wortwörtlich, und das sind ungefähr 50%, kriegen sie einfach nicht das Persönliche mit. Ich sitze hier und vieles, was ich sage ist witzig. Oder wir lachen, und da ist diese bestimmte Art von Leichtigkeit. Und allen Gedanken haftet eine ganz eigene Begeisterung und Freude an. Wir können Stunden hier sitzen, mit diesen dichten Ideen, aber tatsächlich macht es doch einen ungeheuren Spaß, oder?

CK, AD: Es ist die reine Freude.

Ken: Ja, das ist es. Es ist die Energie und der Tonfall und der Gesichtsausdruck. Aber von all dem wird nichts rüberkommen im Skript, weil man das alles nicht sehen kann. Ein Teil meines Problems ist: im geschriebenen Wort bin ich nicht präsent genug. Das ist ein wirkliches Problem für mich. Wenn die Leute das Interview lesen, und die Worte mit ihrer eigenen Vorstellung untermalen, dann denken sie, dass jemand, der von solchen Dingen spricht, eine sehr ernste, dominante, autoritäre Person sein muss. Dabei bin ich einfach nur ein ganz normaler Kerl. I'm just a kind of a… guy. Aber das kommt nicht rüber.

CK, AD: Jeder sollte Dich so erleben können, wie wir jetzt.

(Noch immer ist der Raum von Lachen erfüllt. Ken schnäuzt sich):

Ken: Eines der Dinge, die wirklich rübergekommen sind, eines meiner ersten Interviews, die ich der Öffentlichkeit gab, war eine CD, die Jordan Gruber aufnahm. Ich sprach von allem Möglichen. Das war tatsächlich das einzige Life-Interview, das ich in 30 Jahren gegeben habe, wo die Menschen mich reden hören konnten. Wenn ihr nun die Bemerkungen lest von Leuten, die die CD gehört haben und sie vergleicht mit den Meinungen über das bloße Skript, dann hieß es bei letzteren: „Mensch, ist der arrogant. Der weiß alles am besten, er ist dadada..." Von denjenigen aber, die die CD angehört hatten, kam nicht die leiseste Kritik. Da hieß es vielmehr: „Oh, Ken ist warmherzig..."

(Unterbricht, den Verzweifelten simulierend) Ach, das hört sich schon wieder bescheuert an!

(Wir krümmen uns vor Lachen)

Wenn Ihr das schreibt, werden sie sagen „He is a total asshole."

Also, die Kommentare zur CD lauteten: „Er ist menschlich, er ist warmherzig, er ist humorvoll, er ist fürsorglich, er ist mitfühlend"...

Aber wenn Ihr das als meine Worte wiederbringt, werden sie denken: „Jesus..."

Ich habe erkannt, dass etwas Entscheidendes fehlt, wenn jemand als Person nicht präsent ist.

CK, AD: Aber in „Mut und Gnade" und deinem Tagebuch „Einfach das" durften dich die Leser doch als „Mensch" erleben.

Ken: Ja, aber selbst dann... Es ist immer besser, die Person zu sehen oder zu hören. Die Tagebücher helfen natürlich bis zu einem gewissen Grad. Aber es ist so viel verborgen in der Körpersprache, im Gesichtsausdruck, im Stimmfall – ob du etwas lächelnd erzählst oder mit gerunzelter Stirn. Ich bin nie wirklich missbilligend. Selbst wenn ich kritisch bin, amüsiere ich mich eher darüber – wie wir alle derart blöd sein können, versteht Ihr? Aber wenn man das transkribiert, hört sich das grauenvoll an. Und ich selber muss mir dann an den Kopf greifen und mir sagen "Oh, I´m a total fucking idiot".

CK, AD: Aber wenn man das Interview einfach authentisch wiedergibt, so wie es ist, ohne Schnörkel, kann man den Lesern vielleicht ein wenig von der speziellen Atmosphäre vermitteln.

Ken: Aber sie können niemals die Energie miterleben, das Lächeln, das Lachen und alles, was passiert.

Einer der Gründe, warum ich keine Öffentlichkeitsarbeit gemacht habe, liegt darin, dass für meine Arbeit eben jene Intensität erforderlich ist, von der wir vorhin sprachen. Wenn ich recherchiere, lese ich in der Regel zwei oder drei Bücher täglich, und es ist eine Riesenarbeit, das ganze Material zu strukturieren. Zum Forschen und Schreiben brauche ich einfach Zeit. Ich kann entweder hier sitzen und Bücher schreiben oder rausgehen und lehren. Beides zugleich zu bewerkstelligen ist sehr hart für mich. Jedes von beiden stellt hohe Anforderungen an Zeit und Engagement. Beide sind Fulltime-Jobs. Wenn man einmal in die Öffentlichkeit gegangen ist, muss man Ja oder Nein sagen – und ich habe so viele Freunde. Ich hasse es, dem einen Ja zu sagen, dem anderen dagegen Nein. Deshalb habe ich schon vor langer Zeit jegliche Öffentlichkeitsarbeit eingestellt. Bis zu meinen 26., 27. Lebensjahr, also bis zum Erscheinen meines ersten Buches, war ich dagegen sehr viel in der Öffentlichkeit. Danach habe ich jedoch 22 Jahre lang kein einziges Interview mehr gegeben. Momentan, in der Aufbauphase des Integral Institute, machen wir etwas mehr von dieser Arbeit. Das Integrale wirkt auf viele Menschen bedrohlich, weil sie befürchten, man will ihnen aufschwätzen, wie sie zu denken haben. Viele kriegen es beim Lesen meiner Bücher mit der Angst zu tun; sie fühlen sich bedroht und werden wütend. Sie glauben, ich wolle sie kontrollieren. Die Menschen, die mich persönlich kennen lernen, denken das überhaupt nicht. Vielleicht halten sie mich aus anderen Gründen für ein asshole, aber sie glauben zumindest nicht, dass ich sie kontrollieren will. Wenn sie mich treffen, machen sie sich eine Meinung darüber, ob ihnen das, was ich vermittle, gefällt, und sie tun das aufgrund der Art und Weise, wie ich tatsächlich kommuniziere. Was ich zu sagen habe, wird vermittelt von meinem Körper, meiner Stimme, meiner Energie.

Ich denke, Ihr wisst, was ich damit ausdrücken will. Sollten mich die Leute wirklich nicht mögen, wäre es mir recht, wenn sie mich aus einem integralen Grund auseinander nehmen, nicht aber als ganzen Menschen. Wie genau Ihr das machen werdet, weiß ich nicht. Aber wehe, Ihr schreibt: „Wilber, the terminator, speaks..."


© Copyright Christina Kessler, Anne Devillard

Dr. phil. Christina Kessler ist Kulturanthropologin und Autorin des Buches „Amo ergo sum. Ich liebe, also bin ich. Selbstrealisation – Der Weg in eine neue Wirklichkeit.", Arbor-Verlag, 2002. Auch dieses Buch hat die Entwicklung des integralen Bewusstseins zum Inhalt. www.christinakessler.com

Anne Devillard ist Chefredakteurin der Zeitschrift NATUR & HEILEN und Moderatorin auf internationalen Kongressen im Bereich holistischer Medizin, Spiritualität und Wissenschaft.