INTEGRAL WORLD: EXPLORING THEORIES OF EVERYTHING
Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber



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Wyatt Earp mit ungefähr 21, Foto um 1869 (Wikipedia)

"Nicht so schnell, cowboy"

Eine Bitte um etwas Gelassenheit

Frank Visser

Ken Wilbers Blog “leeres Gerede” gegen seine Kritiker ist zu einer Unmenge von abweichenden Emotionen geworden, sowohl auf der positiven wie auf der negativen Seite des Spektrums. In Games Pandits Play gab ich meine erste Antwort, indem ich diese hochgeladene Annäherung kategorisch zurückwies, ich skizzierte einige zulässige Fragen und klärte meine Motive für die Übernahme der Integralen Welt. Da jetzt das Feuerwerk vorüber zu sein scheint, ist es an der Zeit zurückzublicken und den Bestand aufzunehmen.

In der Rolle von Wyatt Earp hat sich Wilber, wie einige meinen, selbst in den Fuß geschossen. Ich würde bloß sagen: „Nicht so schnell, Cowboy.“ Der leidenschaftliche Philosoph scheint von seiner Leidenschaft erfüllt zu sein. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, eine gemäßigtere Annäherung zu versuchen.

Den eingesetzten Blogs folgte eine Ermahnung, eine Schattenarbeit zu tun, für die drei Papiere. die von Wilber zur Verfügung gestellt wurden. Wenn diese die Wirkung haben, die hochaufgeladene Atmosphäre zu mäßigen und zu normalisieren, wäre ich ganz dafür. Doch wenn solche Bemerkungen wie „Kritiker sind unbedeutende Arschlöcher“ nicht nur erlaubt, sondern sogar sanktioniert und als exemplarisch hochgehalten werden, dann wird nichts von wirklichem Wert erreicht.

Wir haben viele Aufführungen von Selbst-Offenbarung während der vergangenen wenigen Tage gesehen. Extrem positive gegenüber Wilber als auch extrem negative gegenüber jenen Kritikern des Systems. Beide davon sind mit Schattenelementen durchschossen, darüber will ich nicht streiten.

Nach meiner Meinung umgeht dieses Gerede um Schattenboxen und Schattenumarmung die wirklichen Themen. Wird Kritik zumeist von Schattenprozessen in der Kritik erzeugt? Oder wird Kritik die größte Herausforderung für ein System, das schnell zu einem Produkt des Lebensstils wird?

Die Konfliktlösungstheorie, wie sie in den Niederlanden von Daniel Ofman angewandt wird, benützt das Konzept der widerstreitenden Qualitäten, um Konfliktsituationen zwischen Personen und Gruppen zu klären. In einem Modell mit vier Quadranten (nicht bezogen auf Wilbers AQAL) werden zwei mentale Grundqualitäten (genannt „Kernqualitäten“) gegenübergestellt. Dies sind die jeweiligen „Herausforderungen“. Beide Qualitäten haben ihre extremen, übertriebenen oder „gemeinen“ Versionen. Die „gemeine“ Version einer Grundqualität wird die jeweilige „Fallgrube“ genannt. Die „gemeine“ Version der jeweiligen Herausforderung (die Qualität, die einem fehlt) wird die jeweilige „Allergie“ genannt. So wie unten:



QUALITÄT




FALLGRUBE




ALLERGY




HERAUS-
FORDERUNG



Zum Beispiel: eloquent zu sein ist eine Qualität, ebenso ein guter Zuhörer zu sein. Beide Qualitäten haben ihre gemeinen Versionen. Die Fallgrube für Redegewandtheit ist, zu geschwätzig zu werden; die Fallgrube dafür, ein Zuhörer zu sein, ist dass man überhaupt nichts sagt:



ELOQUENT




GESCHWÄTZIG




NICHT
ANTWORTEN





ZUHÖREN


Hier wird es aber interessant: Menschen neigen dazu, allergisch gegen die extreme Version der ihnen entgegengesetzten Qualitäten zu sein. Sie neigen dazu, über die Allergien Karikaturen zu formen.

Redegewandte Menschen sind allergisch gegen diejenigen, die nie ihre Stimme erheben; aber stille Menschen hassen diejenigen, die zu geschwätzig sind. Wenn Allergien überhand nehmen, sind Konflikte entstanden. Diese Konflikte werden nur gelöst, wenn sowohl Qualitäten bestätigt als auch Fallgruben vermieden werden.

Wilbers großartige Qualität ist es, weite Verallgemeinerungen zu geben, inspirierte Visionen, breite Skizzierungen einer Theorie. Das hat eine Fallgrube: leere Slogans, luftige Abstraktionen und die Tendenz, Argumente zu wiederholen. Die entsprechende Herausforderung könnte sein: detaillierte Kritik, spezialisierte Studien, das Sammeln von informierten Meinungen. Diese Qualität hat jedoch wiederum ein Extrem: Erbsenzählerei, endloses Prozessieren, nie endende Debatten. Und das ist offenbar Wilbers Allergie.



HOCHWERTIGE ÜBERBLICKE




LUFTIGE ABSTRAKTIONEN




ERBSENZÄHLEN




DETAILLIERTE KRITIK


Ich selbst bin im Gebiet der detaillierten Studien mehr zu Hause, und deshalb bin ich immer von der gegenteiligen Qualität beeindruckt, die Wilber für mich verkörpert: großartige Übersichten über interdisziplinäre Studien. Deshalb könnte ich wohl sehr gut seinen Schatten darstellen – und auch umgekehrt. Die Schattentheorie sagt oft, dass wir bei anderen hassen, was wir bei uns selbst hassen. Das führt dazu, Kritiker der gleichen Mängel zu beschuldigen, die sie bei Wilber aufzeigen. Die Theorie der Kernqualität sagt das Gegenteil: wir hassen bei anderen (die extreme Version dessen), was wir bei uns vermissen.

Nebenbei bemerkt, denkt man an Wilbers Allergie gegen Boomeritis oder das Gemeine Grüne Meme, würde das vermuten lassen, dass das grüne Meme selbst in seinem Meme-Makeup schwach ist. Wilbers Forderung, dass „Das Einzige, was Grün tun kann, ist um den Dialog zu bitten“, ist eine solche Karikatur…

Meines Erachtens ist diese Dynamik im gegenwärtigen Konflikt genauso vorhanden. Es gibt eine sichtbare Spannung zwischen verall-gemeinerten Überblicken und detaillierten Studien.

Diese Spannung wird manchmal in der integralen Literatur bemerkt als die Spannung zwischen dem integralen Modell auf der einen Seite und den spezialisierten Theorien auf der anderen Seite, die sich dann immer öfter nicht weigern, sich in das weitere integrale Rahmenwerk einfügen zu lassen. Das ist natürlich eine ziemlich schmeichelhafte und parteiische Definition! Was ist, wenn spezialisierte Studien dem integralen Rahmenwerk widersprechen, oder den Theorien, die von ihm abgeleitet sind?

Die Einstellungen von Wilbers Blogs haben überraschenderweise wenig Substanz, wenn es zur Widerlegung von besonderer Kritik kommt. Milde Kommentare zu seinem Schreibstil oder seinen Schreibgewohnheiten, die entweder symptomatisch für unbewusstes Material (Aggression, Schlampigkeit, Vereinfachung) sind oder auch nicht, werden mit hysterischem Ableugnen begegnet. In diesem Klima kann offensichtlich nichts von echtem Wert erreicht werden.

Lassen Sie uns deshalb ein relevantes Thema als eine Fallstudie nehmen. In meiner ersten Antwort erwähnte ich das Thema der Evolutionstheorie als ein Beispiel, für das eine ausgedehnte Diskussion sich lohnt, da es einen Bezug hat zur Verwandtschaft der integralen Philosophie mit der Naturwissenschaft.

In einem Telefongespräch, das Wilber vor kurzem mit Studenten seines Integralen Instituts hatte, überging er schnell Meyerhoffs Hauptpunkte der Kritik. (Mit einem typischen Tonfall von Verachtung predigte er zu den Konvertierten und versuchte, schnelle Punkte zu machen: „Wir schließen alle Kritik mit ein, was wir nicht einschließen, sind Fälle, die man mit dem Beil erledigt ---hahaha“).

Lassen wir jedoch Meyerhoff im Augenblick mal beiseite, der überwiegende Teil seines Telefongesprächs wurde auf das wichtige Thema Evolution verwandt. Wilber versuchte zu argumentieren, dass seine Sicht der Evolution in Übereinstimmung sei mit oder sogar unterstützt wird von den maßgeblichen Evolutionsbiologen, wie etwa Ernst Mayr und Richard Lewontin. Seine Zuhörerschaft hatte nichts Kritisches zu seinem Monolog hinzuzufügen, deshalb schien der Fall geschlossen zu sein.

Das ist aber nicht so.

Innerhalb von Tagen setzte Jim Chamberlain seine Kommentare in das Ken Wilber Forum der Integralen Welt ein, nachdem er sich das aufgenommene Telefongespräch angehört hatte, er argumentierte unter anderem: Dass die maßgebenden Evolutionsbiologen nicht Wilbers Vorstellung von Evolution unterstützen, und dass diese Vorstellung selbst zweideutig ist, wenn es zum Thema von Telos kommt.

Jetzt sind wir also wieder zurück bei der alten Routine.

Solange Kritik hinter geschlossenen Türen „behandelt wird”, mit einer Haltung „lasst es uns schnell abhandeln und dann weitergehen”, in einem defensiv-aggressiven Sinn, kann nichts an wirklichem Wert im Sinne der Wahrheits-findung erreicht werden. Warum sollte man nicht erhobenen Hauptes diesen Fragen entgegentreten? „Begegnet allem“ – ist das nicht der Slogan heutzutage in integralen Kreisen?

Relevante Fragen fallen einem ein:

  1. Was genau ist Wilbers aktueller Ansatz bei der Evolution?
  2. Was genau sind die maßgebliche naturwissenschaftliche Sicht der Evolution und ihre Mechanismen?
  3. Wo steht Wilber in der Debatte über das intelligente Design gegen die Naturwissenschaft?
  4. Hat Wilber die maßgebliche Sicht der Evolution richtig dargeboten?
  5. Wie klug ist es, Wilbers Argumente als Nominalwert zu nehmen (als die einzige Quelle der Information)?

Ken Wilber ist ein selbsternannter Geschichtenerzähler – er wird Tatsachen und Theorien filtern, um sie seiner Geschichte anzupassen. Wie Meyerhoff demonstriert hat, enthalten Geschichten Werte und verstecken Vorurteile – sind diese ebenso präsent in Wilbers Modell?

Angesichts des Wirkungskreises und der Breite von Wilbers Theorien ist es wohl mehr als relevant, solche Fragen zu stellen. Was könnte hilfreicher sein als zu versuchen, sie zu bestätigen? Oder sie als falsch zu erklären? Oder sie zu widerlegen?

Meyerhoff und andere sind genauso sehr Aufhänger für (negative) Projektionen wie es Wilber auch ist, so weit ist das nun klar, angesichts der stark emotionalen negativen Antworten über sein Werk, die ich auf kenwilber.com gelesen habe. (Leute werden nicht informiert, sie werden angegriffen durch seine Schriften – ein sicheres Zeichen von Schattenelementen, wie Wilber es so gut in seinen frühen Werken erklärt hat.)

Auf, ihr Leute. Die Arbeit der unabhängigen Bestätigung von Wilbers Vorschlägen hat noch nicht einmal begonnen.

Juni 25. 2006.