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BODHISATTVAS 
MÜSSEN ZU POLITIKERN WERDEN 

Interview mit Ken Wilber von Frank Visser
 

Aus: TRANSPERSONALE PERSPEKTIVEN - Vol.5/98 
erscheint im Dezember 1998



 Was ist Ihrer Meinung nach der momentane Stand transpersonaler Forschung? Welchen Reifegrad hat dieses Gebiet erlangt? Führt es zu etwas? Stagniert es?

Der transpersonale Forschungsbereich hat in der Tat an Reife gewonnen, obwohl das eine vergleichsweise junge Disziplin ist. Aber ich muß auch bekennen, daß sie aus meiner Sicht tatsächlich für eine Dekade oder so stagniert hatte. Sehr gute Arbeit wurde geleistet, und einige ausgesprochen brilliante Theoretiker stellten hervorragende Studien an, aber am Horizont zeichnete sich nichts wirklich Neues oder Aufregendes ab, so schien es mir jedenfalls. Ich glaube das Problem war, daß dieser Bereich noch sehr damit beschäftigt war, Wege zu suchen, um die transpersonale Psychologie in breitere Themenfelder und Zusammenhänge einzuführen. Die transpersonale Psychologie war immer noch im Begriff, sich überhaupt auf ein Feld transpersonaler Forschung auszuweiten. Wissen Sie, das ist ziemlich vertrackt, weil "transpersonale Psychologie" ja in sich geradezu einen begrifflichen Gegensatz darstellt. Es ist ein bißchen, als ob man von "transpersonal personal" oder "transpsychologischer Psychologie" sprechen würde. In den Weisheitstraditionen ist immer eine Unterscheidung getroffen worden zwischen der Psyche - als individueller Geist oder Selbst - und Pneuma - dem transindividuellen Geist. Und transpersonale Psychologie befand sich immer in der delikaten Lage, einen Psycho-logischen Forschungsansatz innerhalb eines eigentlich Pneuma-logischen Bereiches darzustellen, wenn Sie verstehen, was ich meine. 

Daher ist in vielen von uns das Gefühl entstanden, daß der wahre Kern transpersonaler Psychologie sich über alles, was man noch mit einiger Berechtigung Psychologie nennen könnte, hinausbewegt hat, und mehr und mehr verweist auf Disziplinen wie spirituelle Philosophie, Ontologie, Epistemologie - all diese "metaphysischen" Begriffe, die heutzutage von Leuten, die sich selbst als professionelle Philosophen betrachten, so ausgesprochen gering geschätzt werden. 

Hier gab es also einen Druck, der die transpersonale Psychologie zwang, sich in ein breiteres Feld transpersonaler Forschung auszudehnen?

Ja, das ist richtig. Ein weiterer Druck bestand darin: Das Fachgebiet Psychologie führt unweigerlich zur Soziologie, die führt dann unweigerlich zur Anthropologie, und von hier zur Philosophie. Und dann, merkwürdigerweise, bizarrerweise, führt das zur Politik. 

Das geht so: Ein wichtiger Zweig der Psychologie ist die Psychotherapie. Alle Schattierungen der Psychotherapie nehmen ihren Ausgangspunkt an der Tatsache, daß Menschen unglücklich sind. Psychotherapie versucht, die Ursachen dieses Unglücklichseins in den Köpfen der Menschen oder in ihrem Verhalten aufzuspüren. Jemand der eine "Geisteskrankheit" hat, eine "Neurose" oder eine "erlernte Anpassungsstörung", welche Bezeichnung auch immer, dieser Mensch ist "beeinträchtigt" in seinem Realitätsbezug. Dem wird jeder zustimmen. 

Aber: Was ist Realität? Wie die Komödiantin Lily Tomlin sagt: "Was ist Wirklichkeit? Nichts als eine gemeinsame Ahnung." Anders ausgedrückt, ist das, was wir Wirklichkeit nennen, nicht in einem hohen Maße ein soziales Konstrukt? Wie können wir sagen, jemand sei in seinem Realitätsbezug beeinträchtigt, ohne zu wissen, worauf genau er sich beziehen soll? Was, wenn Sie beeinträchtigt sind in ihrem Realitätsbezug auf eine Gesellschaft von lauter Nazis? Wäre das nicht eher ein Zeichen für geistige Gesundheit, keine Krankheit? 

Wenn man also "psychische Krankheit" definieren will, muß man plötzlich definieren, was eine "gesunde" Gesellschaft ist. Es gibt keinen anderen Weg, um zu bestimmen, was "beeinträchtigter Realitätsbezug" eigentlich heißen soll. Beeinträchtigt in bezug worauf? Krankheit im Vergleich zu welcher Definition von Gesundheit?

Dann - als Theoretiker - wird man wohl damit anfangen müssen, sich verschiedene Gesellschaften und Kulturen genauer anzusehen, und zu verstehen suchen, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Gesundheit oder Normalität, oder gar "Realität" definiert haben. Und das wird uns dann sehr rasch zur Anthropologie bringen, also zur Beschäftigung mit der Entwicklung der menschlichen Spezies im allgemeinen. 

Und schon geht es zurück in die Geschichte und in die Vorgeschichte, man versucht in alledem einen Sinn zu finden, herauszufinden, was es bedeuten könnte, "normal" zu sein, weil man anders keine Möglichkeit hat, die Bedeutung von unnormal oder krank zu definieren; und deswegen - mal ganz ehrlich - haben wir eigentlich überhaupt nichts, was wir unseren Patienten wirklich empfehlen könnten. Wie können wir sie "gesund machen", wenn wir noch nicht einmal sagen können, was Gesundheit ist? 

Und - ich bedaure es, das innere Geheimnis der Anthropologie aufzudecken - aber die Anthropologie birgt keinerlei Antwort. Alles was wir finden werden, ist die Tatsache, daß menschliche Wesen vor ungefähr, sagen wir mal 400.000 Jahren, die Weltbühne betreten haben. Dann treibt ein heftiger Wildwuchs von Kulturen und Gesellschaften seine Blüten, und Tausende verschiedener Normen und Regeln und Glaubenssysteme und Verfahrensweisen und Ideen und Künsten und was man sich sonst noch so vorstellen kann, explodieren förmlich auf dieser Bühne. 

Man wird dann also sehr bald feststellen, daß man noch nicht einmal beginnen kann, hier etwas zu begreifen, ohne irgendeine Form geistiger Kategorien, die einem helfen, diesen heterogenen Wust zu ordnen, zu klassifizieren und zu strukturieren. Was ist nützlich und was nicht? Was ist gut, was schlecht? Was ist wertvoll und was unwichtig? Was ist wahr und was falsch? Und schon ist man plötzlich ein Philosoph.

Oh nein! Man kann noch nicht einmal anfangen, etwas vom menschlichen Dasein zu begreifen, ohne tief in philosophische Themenkreise einzutauchen. Sogar jene, die der Philosophie jegliche Bedeutung oder Validität absprechen - sie führen philosophische Gründe an für ihre Ablehnung! In anderen Worten, ob man mag oder nicht, Mensch sein heißt Philosoph sein. Die einzige Wahlmöglichkeit besteht darin, ob man ein guter oder ein schlechter sein möchte. 

Und dann, wenn man denn nun versuchen will, ein guter Philosoph zu sein, passiert es: Sobald man sich als Philosoph erlaubt, tatsächlich ein paar triftige Schlüsse zu ziehen - über das Wesen von Wirklichkeit, die Natur des Menschen, des Geistes, des Guten, Wahren und Schönen - dann wird man sehr schnell feststellen, daß mit zwingender Notwendigkeit versucht werden muß, die Gesellschaft zu einem Ort zu machen, an dem eine größtmögliche Anzahl von Menschen die Möglichkeit haben, das Gute und das Wahre und das Schöne anzustreben. Das wird dann zu einem brennenden kategorischen Imperativ, der sich mit seiner unerbittlichen moralischen Forderung in die Seele hineinfrißt. 

Foucault hat auf eine der großartigen Sachen bei Kant hingewiesen, nämlich, daß er als erster moderner Philosoph die zentrale Frage gestellt hat, was es für eine Gesellschaft bedeutet, aufgeklärt (erleuchtet, A.d.Ü.) zu sein, in seinem Aufsatz "Was ist Aufklärung?". Wohlgemerkt, nicht einfach "Aufklärung" (engl. "Enlightenment" = meint im doppelten Sinn Aufklärung und Erleuchtung - A. d. Ü.) für Sie oder für mich, sondern für die Gesellschaft als Ganzes! Oder Karl Marx: Die Philosophen der Vergangenheit haben lediglich versucht, Wirklichkeit zu verstehen, während die wirkliche Aufgabe darin liegt, sie zu verändern. Sozial verpflichtet zu sein! 

Und schon befindet man sich, als moderner Philosoph, im weiten Feld politischer Theorie. Man wird sich klar darüber, daß Bodhisattvas wohl oder übel zu Politikern werden müssen, so gruselig das zunächst auch klingen mag. 

Und das geschieht also auch mit transpersonaler Psychologie?

Ja, die transpersonale Psychologie ist durch all diese Phasen gegangen. Sie begann mit Abraham Maslow und Anthony Sutich und einer Handvoll Leuten, die zum größten Teil professionell ausgebildete Psychologen waren. Auf der Basis dieses handfesten und soliden Fundaments hat sie sich rasch in zahlreiche Unterbereiche verzweigt, wie Roger Walsh und Frances Vaughan gezeigt haben (in: Paths Beyond Ego): Transpersonale Soziologie, transpersonale Anthropologie, transpersonale Ökologie, transpersonale Ethik, transpersonale Prozeßarbeit, transpersonale Philosophie, transpersonale Politik, transpersonale Transformation (wie in Michael Murphy's monumentalem Werk Die Zukunft des Körpers) - um nur einige zu nennen. Und all das, wie Michael Washburn so hilfreich darlegen konnte, wird jetzt als das transpersonale Arbeitsfeld gesehen. Und das ist sehr, sehr aufregend. Um eine Parallele zu ziehen: erinnern Sie sich, daß die Psychoanalyse einige ihrer größten Wirkungen in Bereichen erzielte, die ebenfalls jenseits der Psychologie lagen. Sie hatte einen wesentlichen und tiefgehenden Einfluß auf die Literatur, auf die Literaturwissenschaft, auf Theorie und Diskurs in der Politikwissenschaft (die enorm einflußreiche Frankfurter Schule - Horckheimer, Adorno, Fromm, Marcuse, Habermas - liefert ein konkretes Beispiel für den Versuch einer Integration der Gedanken von Freud und Marx), auf die Kunst und Kunstbetrachtung (die Surrealisten zum Beispiel), auf Pädagogik, Erziehungswissenschaft und -praxis. Weil die Psychoanalyse tatsächlich Zugang zu einigen äußerst wichtigen (wenn auch begrenzten) Wahrheiten fand, hat sie sich als außerordentlich einflußreich für diverse andere Bereiche erwiesen und ist förmlich über die engen Grenzen der Psychologie hinaus explodiert.

Und ich denke wir sind im Begriff, etwas ähnliches in bezug auf den transpersonalen Bereich zu erfahren, vielleicht nicht ganz so breit gefächert, aber zumindest recht ähnlich. Sein Einfluß reicht immer mehr über das Gebiet der Psychologie hinaus, und viele von uns haben bereits auf diesem weit größeren Feld des transpersonalen Bereichs gearbeitet, so auch ich in meiner eigenen Arbeit der letzten Zeit. 
 

Wie würden Sie Ihre Arbeit charakterisieren? Wie charakterisieren Sie Ihren speziellen Ansatz in Bezug auf das Transpersonale?

Nun, mein Ansatz hat ebenfalls dieses Grundmuster durchlaufen, von der Psychologie zur Soziologie und Anthropologie, zur Philosophie, zur politischen Theorie. Tatsächlich können Sie das an meinen Büchern sehen: Das Spektrum des Bewußtseins, Ohne Grenzen, und Projekt Atman waren meine ersten drei Bücher und sind im weiteren Sinne als psychologische Bücher verstehbar. Dann: Up from Eden und A Sociable God, die Anthropologie und Soziologie betreffen. Dann Auge in Auge, eine sehr philosophische Arbeit. Und dann meine ganz neuen Sachen, die ziemlich schwer zu beschreiben sind, weil sie sich sozusagen auf alles beziehen. 

Alles?

Nun, ich bin dabei, eine Trilogie namens Kosmos zu schreiben, die zumindest versucht, alle wesentlichen Bereiche menschlichen Wissens zu berühren. Der erste Band ist gerade auf Englisch erschienen, er heißt: Sex, Ecology, Spirituality: the Spirit of Evolution. Es ist ein extrem langes Buch mit über achthundert Seiten, was die Übersetzungsmöglichkeiten einschränkt, aber eine populärere Version namens A Brief History of Everything wird gerade in Deutsch, Holländisch, Französisch, Italienisch und andere europäische Sprachen übersetzt, so daß man wenigstens sehen kann, worum es mir geht.

Aber meinen Sie mit "Alles" denn wirklich Alles?

Womit wir es zu tun haben, ist: Wenn die transpersonale Richtung irgendeinen glaubwürdigen Wert besitzt, dann sollte sie sich auch auf buchstäblich jeden Aspekt menschlichen Strebens anwenden lassen. Sie müßte etwas Interessantes über alles auszusagen haben, von der Physik bis zur Psychologie, von der Philosophie zur Politik, von der Kosmologie bis zum Bewußtsein. 

Aber das kann man nicht eklektisch anpacken, oder als einen Eintopf unzusammenhängender Bemerkungen und Beobachtungen. Da muß es etwas geben, was in die Richtung von Kohärenz und integrativer Aussagekraft geht. Die transpersonale Ausrichtung muß in der Lage sein, eine enorme Anzahl von Disziplinen in eine ziemlich vollständige, kohärente, plausible, einleuchtende Vision zu bündeln. 

Nun muß man natürlich erst einmal sehen, ob das überhaupt machbar ist. Es könnte auch schlicht unmöglich sein, aus vielen Gründen. Aber "sticht ihn der Hafer, geht der Esel aufs Eis", und dieser Esel hier ist drauf gegangen. Das ist es, was die Kosmos-Trilogie anzugehen versucht - eine verständliche Anzahl von Wissensdisziplinen zu integrieren. Ob das nun klappt oder nicht, nun, das wird man zunächst mal abwarten müssen. Aber ich denke, daß es zumindest den Leuten helfen wird, ihre eigenen Visionen in einem verständlicheren und umfassenderen Maße auszuformen.

Wie hat sich Ihre Sichtweise über die Zeit entwickelt? Was ist geblieben? Was wurde verworfen?

Ja, sicherlich, meine Ansichten haben sich entwickelt, wie ich hoffe entlang der Linien dieses wundervollen Zitates von Erich Jantsch: "Evolution ist Selbst-Entwicklung durch Selbst-Transzendenz." Ich hoffe, daß ich mich entwickelt habe, und bete, daß ich mich transzendiert habe. In anderen Worten, eine Evolution durchlaufen habe. 

Aber ich muß auch sagen, ich bin vielleicht einer der größten lebenden Glückspilze, was vergangene Veröffentlichungen angeht, insofern, als daß ich mich immer noch ziemlich wohl fühle mit fast allem, was ich geschrieben habe. Ich habe die Themenfelder meiner Schriften sehr stark ausgedehnt, aber meine frühen Werke bleiben immer noch, so glaube ich, sehr solide. 

Dies trat erst neulich wieder deutlich an mich heran, weil ich durch eine Serie interessanter Zufälle dazu kam, im Laufe einer Woche Vorworte zu drei meiner frühen Bücher zu schreiben, die in neuen englischen Ausgaben aufgelegt werden. Wenn ein Autor ein Vorwort schreibt zu einer Arbeit, die vor ein oder zwei Dekaden verfaßt worden ist, dann erklärt das Vorwort im allgemeinen, warum der Autor nicht mehr an das Buch glaubt: "Ach, ich habe meine Meinung geändert, das war ein interessanter erster Versuch, andere können aus meinen Fehlern lernen, ich bin zu einer anderen Auffassung gelangt" - und so weiter. Ich war sehr froh feststellen zu dürfen, daß ich weiterhin meine frühen Bücher ernsthaft empfehlen kann. 

So habe ich also anscheinend meine eigene Arbeit "transzendiert" und beziehe sie weiter mit ein. Ich habe beinahe alle wichtigen Konzepte der frühen Zeit beibehalten. Damals, als ich diese frühen Bücher schrieb, glaubte ich ausgesprochen fest daran, daß ihre Grundgedanken richtig seien: Und ich glaube, daß sie immer noch ausgesprochen richtig sind - mit ein wenig Feinanpassung (letztendlich reflektieren sie im Grunde die Philosophia perennis, daher ist das keine so besonders grandiose Leistung meinerseits). Aber ich habe in der Tat den Horizont meiner Arbeit erweitert. Ich versuche - wohlgemerkt versuche - die transpersonale Sichtweise auf allen Gebieten menschlichen Wissens zum Tragen zu bringen. Ich möchte hoffen, daß mein Werk ein Beispiel für eine tatsächliche "Welt-Philosophie" ist, indem es Osten und Westen, Norden und Süden respektiert und mit einschließt. Aber das sollte zweifelsohne von anderen beurteilt werden. 

Ist Ihre Arbeit auf irgendeine substantielle Kritik gestoßen - aus dem transpersonalen Bereich?

Ja, auf jeden Fall. Und diese Kritik ist wichtig, wie ich meine, und ich nehme sie sehr ernst. Gleichzeitig möchte ich sagen, daß ich glaube, meine Position besitzt mehr Evidenz. Ich denke, mein Standpunkt hat das, was Habermas die "zwanglose Kraft des besseren Argumentes" nennt. Aber auch das sollte offensichtlich von anderen beurteilt werden. 

Die wesentlichen alternative Ansätze zu Ihrem scheinen die von Grof und Washburn zu sein. Beide nehmen einen regressiven Blickwinkel auf das Wesen des Geistes ein: Wir müssen zu dem zurückkehren, was wir verloren haben (in unserer persönlichen Biographie). Irgendwelche Kommentare?

Ich habe ausgesprochenen Respekt für Stan Grof. Er ist ganz einfach ein außergewöhnlicher Mensch, und ich bin glücklich, ihn Freund nennen zu dürfen. Ich war immer sehr von seinen Schriften beeindruckt und habe sie immer ganz besonders weiterempfohlen. Was Michael Washburn betrifft, trotz der intensiven Natur unserer Debatte: Ich war von Anfang an ein Fan seines Schaffens. Als ich Herausgeber des ReVision Journal war, habe ich übrigens besonders hart dafür gekämpft, sein Werk veröffentlicht zu sehen. Obwohl es häufig von meiner eigenen Arbeit abweicht, fand ich seine Ideen immer klar und kraftvoll artikuliert. Ich war schon immer ein Befürworter der Veröffentlichung seines Schaffens, damit man alternative Konzeptionen kennenlernen und sich eine eigene Meinung bilden kann. 

Denken Sie denn, daß es Probleme bei ihren Ansätzen gibt?

Ja, das vorausgeschickt, denke ich allerdings, daß es da einige Begrenzungen in ihren Ansätzen gibt, ziemlich nah entlang der Linien, die sie selbst skizziert haben: In einer letztendlichen Analyse sind beide Ansätze regressiv. Zwei wichtige Punkte sollten hier erwähnt werden.

Erstens, ich streite keinesfalls ab, daß die früheren Stadien der Entwicklung unterdrückt, verdrängt, verzerrt, entfremdet sein können; und daß "psychische Gesundheit" daher auch verlangt, daß wir mit den verdrängten oder entfremdeten Aspekten unseres Seins wieder Berührung aufnehmen. Seit Freuds Zeiten hat die Moderne diesen Gedanken völlig akzeptiert und ich akzeptiere ihn auch. 

Das Problem ist doch aber: Wir können Entwicklung nicht in den Begriffen der Verdrängung definieren. Wenn die menschliche Entwicklung tatsächlich von Verdrängung vorangetrieben würde, dann gäbe es schlicht keinen Grund, warum sie überhaupt vorangehen sollte. Wenn Sie auf einer Pflanze rumtrampeln, hört sie auf, zu wachsen, Punkt. Auch wenn sie dahinsiecht und dann vielleicht doch noch ein bißchen vor sich hin wächst. Hier liegt der eigentliche Punkt.

In anderen Worten: Das hauptsächliche und wichtigste Prinzip ist das des Wachstums, oder Selbstentfaltung, Evolution, Entwicklung. Das ist zunächst mal da. Und dann, gar keine Frage, im Lauf von Evolution und Wachstum, können bestimmte Fähigkeiten und Potentiale unterdrückt und verdrängt werden. Aber das ist nicht der Mechanismus von Entwicklung, sondern etwas, was dabei schiefgehen kann. Besonders Washburn mißversteht diesen höchst simplen Sachverhalt.

Was Stan betrifft, so ist er viel sorgfältiger und geschickter, und er würde niemals sagen, daß die geistige Seinsebene lediglich wieder hereingeholt werden muß, weil sie ja im Lauf des Lebens verloren gegangen ist. Aber schauen Sie, zu etlichen Gelegenheiten klingt er ausgesprochen so, als ob er genau das sagen würde. Ich lese diesen Gedanken aus seinen Schriften heraus, und aufgrund Ihrer Fragestellung nehme ich an, Sie tun das auch. Also lassen Sie uns zumindest gemeinsam dafür appellieren, daß Stan seine Ansichten klarer ausführt.

Macht der Begriff des "Wesensverlustes" überhaupt Sinn? Und daher der Gedanke, daß sich menschliche Wesen "zum Wesen zurückwenden" sollten?

Oh, natürlich. Auf jeden Fall. Aber das ist nicht etwas, das auf Altersstufe eins oder zwei oder drei verloren ging! Die Weisheitstraditionen sprechen alle von der Schöpfung des Universums als einem "Wegfallen" vom Wesen oder von der Gottheit oder vom Geist (im Original verwendet Wilber hier das deutsche Wort "Geist" - A.d.Ü.) - welchen Ausdruck Sie auch immer bevorzugen. Dieses "Wegfallen" oder "Entleeren" (zum Beispiel Hegels Abfall, oder die Kenosis der christlichen Mystiker - es gibt so viele Beispiele!) ist nicht an sich "schlecht" - es ist eher des Geistes Überfluß, des Geistes Fülle, des Geistes Art und Weise des Erschaffens. Aber wir Menschen - durch eigene Verantwortung - lassen uns von dem phänomenalen Schauspiel derart intensiv in Beschlag nehmen, daß wir es für wirklich halten. Wir glauben an das Phänomen und keineswegs an das Numen. Daher leiden wir. Daher haben wir Teil an der Mathematik des Schmerzes und an dem Foltermechanismus namens "Selbst". 

Aber dieser "Fall" ereignet sich nicht während des biologischen Geburtsvorganges, oder während des ersten Lebensjahres, oder irgend so was. Er ereignet sich mit dem Big Bang: Samsara tritt in die Erscheinung, als ein wundervoller Ausdruck der freudvollen Schöpfung des Geistes, einer Schöpfung allerdings, die durchblickt werden will, bis hin zu ihrer Quelle, glasklar. Und das Kleinkind lebt ganz entschieden nicht in der Quelle. Da geht in den Vorstellungen eine ganze Menge durcheinander. Das Kleinkind muß wachsen und sich entwickeln - genau wie die anderen Teile der Evolution - vom präpersonalen Stadium zum personalen und transpersonalen, vom Unterbewußten zum Selbst-Bewußtsein zum Überbewußtsein, vom Instinkt zum Ich zum Geistigen - um hierin seine höchste Identität wieder zu entdecken. Aber, sehen Sie, das hat nun gar nichts mit der Geburt von der biologischen Mama zu tun.

Das amerikanische Magazin New Age hat kürzlich in einem Artikel über Sie bemerkt: "So warm und sympathisch er auch auf der persönlichen Ebene sein mag, Wilber ist ein Samurai-Krieger, der keine Gefangenen macht". Kommentare dazu?

Wir alle im transpersonalen Bereich - das brauche ich Ihnen nicht zu sagen - werden von konventionellen Theoretikern betrachtet als völlig schrullig, übergeschnappt, abgedreht, verrückt. Man sieht uns als eine Art Phrenologen des Universums an. Wohlmeinend, aber völlig spinnert. 

Als Schriftsteller habe ich daher versucht, sehr kritisch, sehr genau, sehr scharf, sehr intensiv zu sein. Wenn man das "Samurai" oder "Krieger" nennen will, bitte schön. Das stört mich nicht. Der Punkt ist jedoch ganz einfach, daß man in der Tat eine sehr mystische und transpersonale Sichtweise anbieten kann, die überhaupt nicht abgedreht ist. Kierkegaard weist darauf hin, daß sich die Wahrheit nur enthüllt, wenn man sie mit der Intensität der Verrücktheit angeht - keine Gefangenen! - und ich stehe in dieser Tradition.

Allerdings bedaure ich es, daß sich manche Leute von diesem leidenschaftlichen Ansatz und Stil verärgern lassen. Auf der emotionalen Ebene fühle ich mich überhaupt nicht wohl mit Konflikten - ich wünsche mir wirklich, daß sich alle mögen. Aber bedauerlicherweise schafft das Ringen um Wahrheit auch Feinde. Und vielleicht sind meine Ansichten völlig falsch, vielleicht richtig. So oder so, schafft das Gegner, und ich habe lernen müssen, damit klarzukommen. 

Ein lustiger Aspekt dieses Zitats aus New Age von wegen "Samurai-Krieger" besteht darin, daß nahezu jeder in amerikanischen transpersonalen Kreisen "Kriegerschaft" durchaus befürwortet. Tonnen von Büchern sind zu dem Thema geschrieben worden - jeder in Amerika möchte ein "Krieger" sein; jeder möchte dem Krieger zujubeln. Nur will anscheinend so gut wie niemand tatsächlich einen treffen. Kommt es doch mal vor, ärgern sie sich eher. 

Bin ich denn ein Krieger? Keine Ahnung. Sicherlich denke ich das nicht von mir selbst. Ich befürchte, das werden Sie selbst beurteilen müssen. Ich denke von mir selbst ganz einfach, daß ich mich der transpersonalen Sache leidenschaftlich verpflichtet fühle und aufgrund dieses intensiven Engagements halte ich es manchmal für notwendig, anzugreifen. Ich wünschte, es wäre anders. 

Mit welchen Projekten befassen Sie sich im Moment? Welche Perspektiven sehen Sie für Ihre Karriere als Schriftsteller?

Da gibt es die bereits erwähnte Kosmos-Trilogie und ihre Zusammenfassung A Brief History of Everything. Und, so merkwürdig das klingen mag, ich denke ganz ernsthaft daran, Romane zu schreiben. 

Warum?

Na ja, zunächst mal haben Romane keine Fußnoten. Hie und da wird es einfach recht mühsam, jeden dahingestammelten Satz belegen zu müssen. Ich denke, ich habe mir das Recht erworben - nach einem Dutzend Bücher - ganz einfach eine Welt heraufzubeschwören, ohne das belegen zu müssen.

Aber darüber hinaus ist die Erzählung eine extrem kraftvolle Form der Kommunikation. Sehen Sie mal hin, was einfache "fiktionale" Werke schon alles bewirken konnten: Harriet Beechers Stowe's Onkel Toms Hütte hat nahezu aus dem Stand die Sklaverei in den Staaten beendet. Wir haben Rousseau's Emile, Goethe's Leiden des jungen Werther, Thomas Mann's Buddenbrocks. Die weltweite Umwelt-Bewegung wurde fast schon unmittelbar von Rachel Carson's Silent Spring losgetreten - es ist nicht wirklich ein Roman, aber es liest sich so, und es zeigt sehr schön die Macht der Erzählform. Übrigens hat Freud höchstpersönlich lediglich eine wichtige Auszeichnung in seinem Leben erhalten, das war der Goethe-Preis für Literatur! 

Und ich denke, es ist keine Überraschung, daß einer der meistrespektierten Politiker unserer Zeit (und einer meiner Helden), Vaclav Havel, im Grunde ein Mann der Literatur ist. Das ist richtig und gut. Es ist eine sehr edle Form der Kommunikation und sehr interessant für mich. 

Was gibt es noch zu sagen?

Ich wünschte, ich würde in Amsterdam leben. Im Ernst. Amerika hat keine große Tradition transzendentalen Schaffens: William James, Ralph Waldo Emerson, Josiah Royce, und das war's auch fast schon. Außerdem sind Amerikaner Cowboy-Pragmatiker, das ist sehr entmutigend. Und wenn sich Amerikaner schon mal für "transpersonale Belange" interessieren, dann ist das beinahe immer ziemlich verrückt und regressiv. 

Aber ich möchte auch darauf hinweisen, daß wir uns alle der Bedeutung transpersonaler Praxis entsinnen sollten. Unsere Praxis kann Meditation sein, oder Yoga, oder Kontemplation, oder Visionssuche, oder Satsang, oder spirituelle Übung oder jede Form von Arbeit in Ausgeglichenheit.

Ganz ernsthaft, wir müssen praktizieren. Nicht viele Leute verstehen, daß Thomas Kuhn's extrem einflußreicher Begriff des "Paradigmas" nicht einen neuen konzeptionellen Gedanken meint; er meint eine neue Praxis, die Kuhn in "exemplarisch" umbenannt hat. Und die Praxis, das Paradigma, das Exemplarische des transpersonalen Ansatzes ist: Meditation oder Kontemplation, welcher Name auch immer. 

Daher: Bitte praktiziert! Bitte laßt das Eure Führung sein. Und ich bin überzeugt, wenn Eure Praxis reift, dann werdet Ihr feststellen, daß der Geist zu Euch herunterreicht und jedes Eurer Worte und Taten segnen wird, und Ihr werdet weit über Euch selbst hinaus getragen werden, und das Göttliche wird strahlen im Licht von tausend Sonnen, und Pracht und Herrlichkeit wird Euch geschenkt werden, und Ihr werdet auf jede erdenkliche Weise zu Hause sein. Und dann, trotz all Eurer Entschuldigungen und all Eurer Einwände, werdet Ihr den Drang verspüren, Eure Vision mitzuteilen. Und genau aus diesem Grunde werden wir, Ihr und Ich, zueinander finden. Und das wird die wahre Rückkehr des Geistes zu sich selbst sein. 

Ihr und ich werden einander finden. Und in unserem Dialog, in unserem gegenseitigen Erkennen und in unserer Freundschaft und unserem Respekt füreinander - bald sogar unserer Liebe füreinander! - werden wir den Geist des Kosmos selbst verkörpern, und dieser Vision höchste Ehre erweisen. Der sublime Ralph Waldo Emerson: "Das allgemeine Herz jeder ernsthaften Konversation ist Gottesdienst." Und der wunderbare, wunderbare Hölderlin: "Ruhig lächelten wir, erspürten unseren eigenen Gott im intimen Gespräch, im Einklang unserer Seelen."

Im Einklang unserer Seelen. 
Danke für dieses Gespräch.


Frank Visser ist Autor des Buches 
"Ken Wilber: Denken als Passie" (Lemniscaat, 1999). 
Zudem ist er Redaktionsmitglied von Panta, dem Organ der holländischen Sektion der International Association, in dem dieses Interview zuerst veröffentlicht wurde (Ausgabe Frühling '96). 
Die deutsche Übersetzung besorgte Martin Gruber.
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